"Der Diktator kommt!" So spitzbübisch begrüßte 2015 der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker den ungarischen Ministerpräsidenten Victor Orban bei einem Gipfel in Lettland. Danach schüttelte er ihm lachend die Hand und klopfte ihm auf die Schulter. Das mag vor acht Jahren noch spöttisch geklungen haben, doch der Spruch hat einen faden Beigeschmack.
Am 31. Mai ist Orban 60 Jahre alt geworden. Für insgesamt 17 Jahre hat er das Amt des Ministerpräsidenten inne, von 1998 bis 2002 und seit 2010 erneut. In den vergangenen Jahren hat er dafür gesorgt, dass er dieses Amt wohl auch noch eine Weile behalten wird.
Victor Orban verändert Ungarn nach seinen Vorstellungen
Im Gespräch mit dem stern sagte der aus Ungarn stammende österreichische Publizist Paul Lendvai im Jahr 2021: "Vielleicht wird Ungarn der erste diktatorisch regierte Mitgliedsstaat der EU." Denn durch diverse Gesetzesinitiativen hat Orban dafür gesorgt, dass das Land diese Richtung einschlägt. Trotz seiner EU-Mitgliedschaft und den damit verbundenen Rechten und Pflichten. Ein Überblick über drei besonders umstrittene Maßnahmen.
- Die Anti-LGBTQ-Gesetze:
Die Regierung Orbans geht gezielt gegen sexuelle und geschlechtliche Minderheiten vor. Bekannt wurden die Anti-LGBTQ-Gesetze von Orban 2021 vor allem durch einen Satz, den der rechtskonservative Präsident im Radio sagte. "Ungarn ist sehr tolerant und geduldig gegenüber Homosexuellen." Es gebe nur eine rote Linie: "Die darf man nicht überschreiten: Lasst die Kinder in Ruhe."
Was als angeblicher Schutz von Minderjährigen dargestellt wird, geht weit darüber hinaus. Seit 2019 ist durch eine Verfassungsänderung nur noch die Ehe von Mann und Frau möglich. In Ungarn sind Aufklärungskampagnen in der Schule untersagt und damit Bücher, Kampagnen oder Werbung, die eine andere Familienform als Mutter, Vater und Kind zeigen. Das betrifft auch Inhalte auf Streaming-Plattformen. Queere Menschen werden damit systematisch aus der Öffentlichkeit gedrängt. Immer wieder kommt es auch zu gewalttätigen Übergriffen. Die ungarische Tageszeitung "Nepszava" schrieb sogar, Selbstmord sei unter homosexuellen Jugendlichen eine der Haupttodesursachen.
2023 legte das ungarische Parlament nach und verabschiedete ein neues Gesetz, durch das Bürgerinnen und Bürger gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern an die Behörden melden können. Anonym.
- Das Gesetz gegen die Verbreitung von Falschnachrichten:
Orban kontrolliert die ungarischen Medien. 2010, frisch nach seiner Wiederwahl, wagte die christlich-konservative Regierung den ersten großen Eingriff in die ungarische Medienlandschaft. Dank einer Zweidrittelmehrheit konnte das Parlament unter Führung von Orbans Fidesz-Partei ein repressives Mediengesetz verabschieden, das Behörden die einfachere Kontrolle und – im Falle von unliebsamer Berichterstattung – die Bestrafung von Medien erlaubte.
Fidesz besetzte entscheidende Positionen mit Orban-Getreuen. Diese kauften sich in viele private Medienhäuser ein. Zudem wurden die öffentlich-rechtlichen Sender zu einem zusammengelegt. Andere kritische Portale wurden gleich ganz eingestellt oder deren Reichweite massiv eingeschränkt, bis im Februar 2021 der letzte unabhängige Radiosender vom Netz ging. Auch gab es mehrfach "schwarze Listen", die unerwünschte Journalistinnen und Journalisten verzeichneten. Die Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen listet Ungarn deshalb in einem Ranking der Pressefreiheit auf Platz 72 von 180.
Insbesondere die Corona-Zeit nutzte Orban für seine persönliche Agenda und drückte das sogenannte "Fake-News-Gesetz" durch das Parlament. Damit drohen bis zu fünf Jahre Haft für Journalistinnen und Journalisten, Blogger oder andere Publizierende, wenn sie Informationen so wiedergeben, dass sie die Bevölkerung "beunruhigen" könnten.

- Ausnahmezustand wegen Masseneinwanderung, Corona, Ukraine-Krieg
"Wir wollen in unserer Mitte keine Minderheiten haben, deren kultureller Hintergrund völlig verschieden von unserem ist. Wir wollen Ungarn für die Ungarn erhalten," sagte der ungarische Regierungschef 2015 einmal. Das bezog sich damals auf Muslime, aber nicht ausschließlich. Seitdem hat die Regierung das Asylrecht immer wieder verschärft, obwohl in das Land vergleichsweise wenig Menschen einwandern und die Bevölkerungszahl insgesamt rückläufig ist. Beispielsweise können Asylanträge seit 2020 nur noch in ungarischen Botschaften gestellt werden. Von Mai 2020 bis Ende 2021 wurden davon gerade einmal zwölf genehmigt, berichtet der Verein Pro Asyl. Dafür fanden allein im Jahr 2022 mindestens 20.000 Pushbacks statt, also gewaltsame Rückführungen aus Ungarn in andere Länder.
Zudem vermag Orban diverse Krisensituationen für sich zu nutzen, indem er sie als Anlass für Notfallgesetzgebung nimmt. 2015 zum Beispiel, als er den "Ausnahmezustand wegen Masseneinwanderung" verhängte, der ihm erlaubt, per Dekret durchzuregieren. Um Gesetze zu verabschieden, braucht er also nicht mehr das Parlament. Im März folgte der Ausnahmezustand wegen des Coronavirus', den er ohne Zustimmung des Parlaments beliebig verlängern konnte. Danach diente der Krieg in der Ukraine als Vorwand, dann die Energiekrise im letzten Jahr.
Oder wie Publizist Lendvai es zusammenfasste: "Er hat ein regelrechtes Sicherheitssystem erschaffen, um an der Macht zu bleiben. Von der Person des obersten Staatsanwaltes bis zum Budgetrat, alle möglichen Institutionen, sind von seinen Leuten besetzt. Es wäre unmöglich, dagegen anzuregieren. Ungarn ist seit längerem keine echte Demokratie mehr."
Quellen: Landeszentrale für politische Bildung, Reporter ohne Grenzen, Pro Asyl, Statista, Euronews, Euroactiv, ntv, "NZZ", "Nepszava", "Zeit", SRF, DPA