Leichen auf den Straßen, ausgebrannte Autos, rußgeschwärzte Häuser ohne jeden Bewohner: Das Entsetzen über die Bilder aus Butscha – einer Vorortgemeinde der ukrainischen Hauptstadt Kiew – ist weiterhin groß. Dort waren am Wochenende nach dem Rückzug der russischen Truppen Hunderte Leichen entdeckt worden. Manche lagen mit gefesselten Händen auf der Straße. Die Zeitung "Ukrajinska Prawda" meldete unter Berufung auf einen Bestattungsdienst, bis Sonntagabend seien 330 bis 340 leblose Körper eingesammelt worden. Auch in anderen Gemeinden in der Umgebung Kiews wurden Todesopfer entdeckt.
Die Ukraine macht für das Massaker in Butscha russische Truppen verantwortlich, die vor einigen Tagen abgezogen waren. Moskau bestreitet das und spricht von "Fälschung". Mehr als 280 Tote wurden bereits in einem Massengrab beigesetzt.
Anton Hofreiter fordert Energie-Embargo
Nach diesen Kriegsgräueln will der Westen noch schärfere Sanktionen gegen Russland verhängen. Beteiligt ist neben der EU auch die Gruppe sieben führender Industrienationen (G7), in der Deutschland derzeit den Vorsitz führt. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) deutete an, dass die neuen Strafmaßnahmen noch diese Woche in Kraft treten.
Das neue Sanktionspaket – inzwischen das fünfte – könne Maßnahmen umfassen "in der ganzen Bandbreite von persönlichen Sanktionen gegen weitere Menschen aus dem Putin-Regime über technische Güter", sagte der Grünen-Politiker im ZDF. "Den Finanzmarkt werden wir uns auch noch einmal anschauen."
Sein Partei-Kollege Anton Hofreiter hat einen Stopp der deutschen Energieimporte aus Russland gefordert. Dies sei zwar schwer umzusetzen, aber dennoch möglich, sagte Hofreiter am Montagmorgen im Deutschlandfunk. Auch die FDP-Jugendorganisation Junge Liberale rief die Bundesregierung auf, nach den Gräueltaten in Butscha ein "schnellstmögliches Energie-Embargo" gegen Russland zu verhängen.
Bundesregierung gegen sofortiges Embargo – aber für mehr Waffen
Deutschland müsse sich, "auch wenn es noch so schwierig ist, dazu durchringen, ein Energieembargo gegen Russland zu verhängen", forderte Hofreiter. Er wies darauf hin, dass bislang weiterhin aus Deutschland "das Putin-Regime mit hunderten Millionen Euro täglich subventioniert" werde. Daher entstehe derzeit der Eindruck, dass Deutschland den russischen Krieg gegen die Ukraine mitfinanziere, indem das Land weiter Gas und Öl aus Russland kaufe, kritisierte Hofreiter. Um Versorgungslücken bei einem Ende der Importe auszugleichen, forderte der Grünen-Politiker Einsparungen in unterschiedlichen Bereichen.
Zur Unterstützung der ukrainischen Verteidigung gegen den russischen Angriffskrieg drängte Hofreiter auch auf eine stärkere militärische Unterstützung des Landes durch zusätzliche Waffenlieferungen aus Deutschland.
Einem sofortigen Embargo für russische Energie erteilte die Bundesregierung aber erneut eine Absage. Auf die Frage, ob ein solcher Schritt ausgeschlossen sei, egal was der russische Präsident Wladimir Putin tue, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck am Montag in Berlin: "Wir arbeiten ja an der Unabhängigkeit von russischem Öl und von Kohle und Gas." Deutschland habe die Erdöl- und Erdgasförderung weitgehend eingestellt und sich gegen andere Lieferanten und Energieterminals entschieden. "Das bauen wir jetzt alles zurück und drehen es um", sagte Habeck. Insofern gebe es jeden Tag Schritte zu einem Embargo.

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Auch SPD-Chef Lars Klingbeil sprach sich gegen ein Embargo aus. "Wir drehen gerade jeden Tag den Gashahn ein Stück weiter zu", sagte Klingbeil. Bei einem Stopp von heute auf morgen "müssen wir bei aller Brutalität dieser Bilder und bei aller Emotionalität, die auch ich habe, da müssen wir über die Konsequenzen reden, die das für uns in Deutschland hätte". Es gehe auch um den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
"Russland schaden und nicht uns"
"Wir verfolgen ja eine Strategie, uns unabhängig von russischem Gas, von Kohle, und von Öl zu machen, nur eben nicht sofort", sagte der Grünen-Politiker Habeck. Die nächsten Schritte seien, das russische Eigentum an deutscher Energieinfrastruktur – Gazprom oder Rosneft – "nicht der russischen Willkür auszusetzen". Habeck bekräftigte, dass Deutschland bei Kohle Ende des Sommers frei von russischen Lieferungen sein werde und Ende des Jahres frei von russischem Öl.
Beim Gas ist die Lage allerdings komplizierter. Der Anteil der russischen Gaslieferungen sank aber laut Ministerium bereits von 55 auf 40 Prozent. Bis zum Sommer 2024 könne es gelingen, bis auf wenige Anteile unabhängig von russischem Gas zu werden, hieß es. Das hänge aber auch vom Tempo beim Ausbau erneuerbarer Energien in Deutschland ab – sowie von einer Senkung des Verbrauchs.

Entwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) sagte den Sendern RTL und ntv, die Sanktionen müssten "vor allen Dingen Russland schaden und nicht uns". Ein schneller Ausstieg hätte enorme Folgen für wichtige Branchen wie die chemische und die Stahlindustrie.
Auch Österreich lehnt ein sofortiges Embargo für russische Energie ab. Österreich stehe bei der Frage zu 100 Prozent an der Seite Deutschlands, sagte Finanzminister Magnus Brunner vor einem Treffen der Eurogruppe am Montag. Sanktionen seien nur sinnvoll, wenn sie einen selbst nicht mehr träfen als den zu Treffenden. Man müsse einen kühlen Kopf bewahren, besonders bei einem Gas-Embargo, sagte Brunner.
Bankenpräsident Christian Sewing rechnet im Falle eines Einfuhrstopps für Energie aus Russland mit einem Einbruch der Wirtschaft. "Emotional kann man jede Forderung nach einem Embargo verstehen", sagte er in einer Videoschalte. "Wenn es dazu kommen würde, ist es eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die deutsche Wirtschaft und wahrscheinlich auch die europäische Wirtschaft in eine Rezession verfällt mit langfristigen Folgen."
EU will weitere Sanktionen vorbereiten
Habeck kündigte zugleich seine Unterstützung für weitere Waffenlieferungen ohne Einschränkungen sowie ein neues Sanktionspaket an. "Die Lieferung von militärischem Gerät und Waffen sollte meiner Auffassung nach uneingeschränkt und in großem Umfang fortgesetzt werden", sagte er. "Immer mit der Grenze, dass wir nicht selber Kriegspartei werden dürfen." Deutschland sei eine Verpflichtung zu Waffenlieferungen eingegangen. "Diese Verpflichtung darf nicht abreißen." Dies gelte für die von seinem Haus zu erteilenden Ausfuhrgenehmigungen uneingeschränkt.
Auch die Europäische Union will möglichst rasch neue Sanktionen gegen Russland verhängen. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell verurteilte am Montag in Brüssel "auf das Schärfste die Gräueltaten, die russische Streitkräfte laut Berichten in einer Reihe von besetzten ukrainischen Städten begangen haben". Die EU werde deshalb "dringend die Arbeit an weiteren Sanktionen gegen Russland vorantreiben", erklärte Borrell weiter. Brüsseler Diplomaten zufolge will die EU-Kommission in Kürze einen Vorschlag für verschärfte Strafmaßnahmen machen.
Macron: Russland vor internationaler Justiz zur Verantwortung ziehen
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron geht sogar einen Schritt weiter und forderte, Russland vor der internationalen Justiz wegen Kriegsverbrechen zur Verantwortung zu ziehen. "Es ist klar, dass es heute ganze klare Hinweise auf Kriegsverbrechen gibt. Es war die russische Armee, die in Butscha war", sagte Macron am Montag dem Radiosender France Inter. Zugleich bot er Hilfe bei den Ermittlungen an. Zugleich forderte Macron neue Sanktionen gegen Russland. Um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, unterstütze auch die EU die Ukraine bei ihren Ermittlungen zu möglichen Kriegsverbrechen, aber auch den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag sowie die UNO.
Frankreich werde sich in den kommenden Tagen mit seinen EU-Partnern und insbesondere mit Deutschland abstimmen. Macron brachte Strafmaßnahmen gegen die russische Kohle- und Öl-Industrie sowie Sanktionen gegen Einzelpersonen ins Spiel.
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba erhofft sich nicht viel von den für die nächsten Tage angekündigten verschärften EU-Sanktionen gegen Russland. Er kenne die aktuellen Entwürfe für das geplante fünfte Paket mit Strafmaßnahmen schon. Daher könne er vorhersagen, dass sie nicht ausreichten, sagte er am Sonntag in einer auf Twitter veröffentlichten Videobotschaft. Nötig seien jetzt insbesondere ein Öl-, Gas- und Kohle-Embargo gegen Russland, ein Ausschluss aller russischen Banken aus dem Banken-Kommunikationsnetzwerk Swift sowie eine Schließung aller Häfen für russische Schiffe und Waren. Diese Forderung richte sich auch an die Wirtschaftsmächte der G7.
Kuleba sagte außerdem, gerade angesichts der Gräueltaten an Bewohnern der ukrainischen Stadt Butscha könne es nun keine Ausreden und kein Zögern mehr geben bei Waffenlieferungen an sein Land. "Wir brauchen Waffen – jetzt!", sagte er, und zwar besonders Flugzeuge, Panzer sowie schwere Flugabwehrsysteme.