Wer trägt nun Schuld am Schlamassel? Finanzminister Christian Lindner? Oder doch Familienministerin Lisa Paus? Die Grüne sagt so, der Liberale so. So weit, so normal. Ampel eben.
Deutlich überraschender ist da schon der Konflikt, der sich innerhalb der Grünen zeigt. Nach dem neuerlichen Zwist im Ampel-Kabinett um einen Gesetzesbeschluss zeigt sich auch der zweitstärkste Koalitionspartner gespalten – kurz vor zwei wichtigen Landtagswahlen, die keine Selbstläufer für die Partei werden dürften. Das könnte noch für zusätzliche Turbulenzen im Regierungsbündnis sorgen.
Durch einen sogenannten Leitungsvorbehalt hatte Familienministerin Paus am Mittwoch ein Lieblingsprojekt von Finanzminister Lindner blockiert. Mit ihrem Veto flog nicht nur das Wachstumschancengesetz von der Tagesordnung des Kabinetts, auch der Wunsch der Ampel-Koalition war passé, nach der Sommerpause mit Konsens statt Krach von sich reden zu machen. Grund der Intervention, offenbar: Paus will nicht akzeptieren, dass Unternehmen mit 6,5 Milliarden Euro entlastet werden sollen – für die Kindergrundsicherung, ihrem Lieblingsprojekt, aber nur zwei Milliarden Euro als "Merkposten" für 2025 veranschlagt sind.
Das sorgt nun für Ärger in der Koalition – und für Unruhe innerhalb der Grünen. Denn in der Partei können sich zwar viele hinter Paus' Blockade versammeln, aber längst nicht alle. Die einen wollen in der Sache vorankommen, durch gutes Regieren statt Raufereien auffallen, die anderen nicht noch mehr Kröten schlucken. Und endlich grüne Projekte durchsetzen.
Kehrt nun die alte Flügellogik zwischen "Realos" – den gemäßigten Realpolitikern – und den "Fundis" – den linken Fundamentalisten – zurück?
Jedenfalls zeichneten sich die gegensätzlichen Linien auch beim Kabinettstreffen am Mittwoch ab. Neben Paus soll auch Umweltministerin Steffi Lemke ihr Veto eingelegt haben. Die anderen Grünen-Ressorts – das Auswärtiges Amt von Annalena Baerbock und das Landwirtschaftsministerium von Cem Özdemir – haben offenbar keinen generellen Vorbehalt angemeldet. Auch Wirtschaftsminister Robert Habeck hatte deutlich gemacht, den Gesetzentwurf beschließen zu wollen.
Besonders für Vizekanzler Habeck ist die Angelegenheit unangenehm: Paus ist mit ihrer Intervention auch dem mächtigsten Grünen in der Regierung in die Parade gefahren, der das Entlastungspaket mit Lindner und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bereits ausverhandelt hatte. Nicht zuletzt muss der Wirtschaftsminister dafür Sorge tragen, dass Deutschland nach der Energie- nicht auch noch in eine Wirtschaftskrise rutscht. Habeck braucht Ergebnisse, keine Blockaden.

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Das Lager des Vizekanzlers ist genervt davon, dass nun der Eindruck entsteht, die Grünen stellten sich gegen Entlastungen für Unternehmen. Von einer katastrophalen Außenwirkung ist intern die Rede.
Allerdings haben viele Grüne offenbar den Eindruck, dass die eigenen Vorhaben in der Ampel-Koalition zunehmend auf der Strecke bleiben. Bei der Kindergrundsicherung, die in weiten Teilen der Partei als "das zentrale sozialpolitische Projekt" der Ampel-Koalition bezeichnet wird, will man das auf keinen Fall zulassen – und dafür auch Blockaden in Kauf nehmen.
"In den vergangenen Jahren sind so viele Versprechen gemacht worden, Kinderarmut zu lindern, bis heute ohne Erfolg", sagte Co-Fraktionsvorsitzernde Britta Haßelmann zur "Süddeutschen Zeitung". Jedes fünfte Kind wachse in Armut auf, man dürfe diese Kinder und Familien nicht im Stich lassen. Es sei "gut und richtig, unser gemeinsames Ampel-Vorhaben, die Kindergrundsicherung, jetzt auf den Weg zu bringen." Sie hätte auch sagen können: ohne Kindergrundsicherung, ohne uns. Der Abgeordnete Sven-Christian Kindler sagte sogar: "Lisa Paus hat für ihr Vorgehen großen Rückhalt in der Fraktion."
Die Energiekrise hatte die sonst streitlustigen Grünen diszipliniert. Entgegen der eigenen Überzeugung trug die Ökopartei beispielsweise die Laufzeitverlängerung für Reservekohlekraftwerke mit, ebenso den beschleunigten Ausbau der LNG-Infrastruktur. Trotz der Zumutungen hielt sich der interne Streit in Grenzen. Das änderte sich spätestens mit der heftigen Auseinandersetzung um die Laufzeitverlängerungen von Atomkraftwerken, die Scholz schließlich mit seiner Richtlinienkompetenz schlichtete. Der anschließende Konflikt um die Verschärfung der EU-Asylpolitik hätte die Grünen beinahe zerrissen.
Nun sind es noch sieben Wochen bis zur Landtagswahl in Hessen, der Dauerzoff in der Ampel lässt die Umfragewerte der Grünen ohnehin schmelzen. Und Tarek Al-Wazir, der aktuelle Wirtschaftsminister in Hessen, wird erklären müssen, warum die Grünen in Berlin bei Unternehmenshilfen auf die Bremse treten. Aktuell liegt CDU-Amtsinhaber Boris Rhein weit vor SPD und Grünen, die sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern.
Auch in Bayern stehen im Oktober Landtagswahlen an, auch hier prophezeien die Umfragen den Grünen einen schwierigen Stand: Die CSU liegt knapp unter 40 Prozent, ihr Koalitionspartner vor den Freien Wählern ist mit den Grünen gleichgezogen (14 Prozent). Hat Familienministerin Paus den bayerischen Wahlkämpfern mit ihrer Blockade einen Bärendienst erwiesen?
Johannes Hunger, Kandidat der Grünen für den bayerischen Landtag, widerspricht. "Lisa Paus hat diese Woche einen sehr wichtigen Punkt gemacht", sagt er zum stern. "Es wäre ein falsches Zeichen, so ein wichtiges Wirtschaftspaket zu verabschieden, ohne das Problem der Kinderarmut in Angriff zu nehmen." Das käme auch bei den Wählern in Bayern an.
Nach dem Veto von Paus habe man ihn am Infostand in Landshut gleich darauf angesprochen, er habe auch Mails und Nachrichten von Parteimitgliedern in Bayern bekommen. "Die Reaktionen waren natürlich gemischt", gibt Hunger zu. Aber: "Viele haben mir gesagt: Gut, dass ihr bei der Kindergrundsicherung hart bleibt." Dass eine sich blockierende Ampel in Berlin dem Wahlkampf in Bayern schade, sieht er nicht: "Ein gut geführter Streit gehört zur Demokratie dazu", sagt Hunger.
Allerdings hat Paus einen handfesten Regierungskrach angezettelt und ihre Partei in Erklärungsnot gebracht. Ausgang: ungewiss. Ihre Blockade weckt Erwartungen, dass man bei der Kindergrundsicherung am Ende nicht mit leeren Händen dasteht.
Die Kindergrundsicherung, die familienpolitische Leistungen zusammenfassen und ausbauen soll, soll das sozialpolitische Profil der Partei schärfen (das nach dem PR-Desaster um das Heizungsgesetz ordentlich gelitten hat). Für Paus und die Grünen geht es um viel. Beharrlich fordert die Familienministerin zusätzliche Mittel für ihr Vorhaben, taxierte den Bedarf zuletzt auf bis zu sieben Milliarden Euro, während Finanzminister Lindner ebenso beharrlich die Staatsschatulle zuhält.
Bei ihrer Klausurtagung Ende August will die Ampel-Regierung darunter einen Schlussstrich ziehen.
"Ich bin überzeugt: Ich habe einen Gesetzentwurf vorgelegt, der sicherstellt, dass Familien und Kinder, die Hilfe benötigen, diese auch wirklich erhalten", sagt Paus am Freitagnachmittag bei kurzfristig anberaumten Pressekonferenz. "Und darum bin ich optimistisch, dass wir den Gesetzentwurf auch bald im Kabinett beschließen werden."
Fragen der Journalistinnen und Journalisten waren nicht zugelassen.