Unterwegs mit Boris Pistorius Reist hier schon der nächste Kanzler?

Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD)
Großer Empfang im Kosovo: Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD)
© Soeren Stache / DPA
Während in Berlin die Kanzler-Gerüchteküche weiterbrodelt, gibt sich Verteidigungsminister Boris Pistorius auf seiner ersten Balkan-Reise staatsmännisch.

Es ist ein großer Bahnhof an diesem Morgen in Kosovos Hauptstadt Priština – selbst für einen Bundesminister. Auf seiner ersten Balkan-Reise wird Boris Pistorius gleich bei der ersten Station nicht nur von seinem Amtskollegen, sondern auch vom Premierminister und der Staatspräsidentin empfangen. Mit ihr steht er anschließend vor deutscher und vor kosovoalbanischer Flagge, spricht über die deutsch-kosovarischen Beziehungen und über die Zukunft der Region. 

Fast könnte man meinen, hier träte ein Kanzler auf und nicht ein Kabinettsmitglied.

Für das protokollarisch ungewöhnlich große Aufgebot gibt es verschiedene Gründe: Deutschland hat hier traditionell einen hohen Stellenwert, Polit-Prominenz aus Berlin wird immer mit besonderen Ehren empfangen. Hinzu kommt, dass in Kosovo nicht der Verteidigungsminister, sondern die Staatspräsidentin Oberste Befehlsinhaberin ist. 

Und dennoch. Der große Bahnhof passt ins Bild, das in diesen Tagen von Pistorius gezeichnet wird: der Kanzler der Reserve.

Seit Monaten schon führt er das Ranking der beliebtesten Politiker in Deutschland an, ist ausweislich einer Umfrage sogar der wünschenswertere Regierungschef als Olaf Scholz. Unlängst spekulierte ein Boulevardblatt mit vier Buchstaben: "Kommt es zum Kanzler-Wechsel?"

Fallen für den Minister aus Deutschland

Für den Verteidigungsminister ist so eine Reise auf den Balkan nicht ohne Fallen. Ein falscher Satz kann reichen, um einen Flächenbrand auszulösen. Noch immer erkennt Serbien das seit 2008 unabhängige Kosovo nicht an, provoziert ständig Scharmützel. So ließ der Nachbar eine Zeit lang Autos mit kosovarischem Kennzeichen nicht die Grenze passieren. Am 24. September vergangenen Jahres eskalierte die Gewalt: Eine Gruppe militanter Serben griff im Norden des Kosovo Polizeikräfte an, vier Menschen starben. 

Aber auch die kosovarische Seite mischt eifrig mit. Gerade hat die Zentralbank den serbischen Dinar, der von der serbischen Minderheit im Norden Kosovos genutzt wird, als Zahlungsmittel verboten. Vor allem dem seit 2021 amtierenden Premierminister Albin Kurti wird vorgeworfen, die Spannungen weiter zu befeuern und die Minderheiten im Land massiv zu diskriminieren, insbesondere die serbische.

Im Präsidentenpalast von Priština gelingt Pistorius eine Mischung aus Solidaritätsbekundung und zugleich Ermahnung an die Regierung, nicht selbst weiter zur Eskalation beizutragen. Er sage das als "Freund", der sich nicht einmischen wolle, betont er. 

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Wie er zum Wunsch Kosovos stehe, Nato-Mitglied zu werden, wird Pistorius gefragt. "Ich bin selbst ein ungeduldiger Mensch", antwortet Pistorius. Deshalb könne er Kosovos Ungeduld verstehen. Die Nato-Mitgliedschaft sei das Ziel. Gleichzeitig sei man noch nicht so weit. Er ruft die Kosovaren zu "Geduld" auf. Das klingt salomonisch.

Auch Scholz war im Kosovo, wo er sich ganz ähnlich äußerte: Im Juni 2022, nur für wenige Stunden. Der Kanzler musste schnell weiter, fünf Länder in zwei Tagen standen auf seiner Liste. Es reichte für ein kurzes Gespräch mit Kurti und einen Blitzbesuch bei den Soldaten der Bundeswehr, die hier stationiert sind. Mehr nicht.  

Pistorius verbringt einen ganzen Tag in Priština, besucht die Bundeswehr in ihrem Camp "Film City", sitzt mit den Soldaten und Soldatinnen abends bei Salat und Grillwurst auf Holzbänken zusammen, posiert geduldig für Selfies. Der Minister als hemdsärmeliger, aber zugänglicher "Mann der Truppe", das ist ein Image, welches Pistorius gern und erfolgreich pflegt. Einer, der nah bei den Menschen ist und zugleich die großen Linien denken kann. Kanzlermaterial. Nur mit mehr Zeit als der echte Kanzler.

Als Verteidigungsminister ist Pistorius für das deutsche Einsatzkontingent der Nato-geführten Kosovo Force (Kfor) verantwortlich. Sie soll dafür sorgen, dass die permanenten Spannungen zwischen den Kosovaren und der dort lebenden serbischen Minderheit nicht so eskalieren, dass sie einen Flächenbrand auslösen. Seit 1999 sind deutsche Soldaten an der Kfor beteiligt. Es ist das längste Mandat der Bundeswehr. 

Boris Pistorius hat Gerüchte nicht konsequent dementiert

In Berlin verfolgt der ein oder andere Genosse sehr genau, wie Pistorius sich zu den Kanzler-Spekulationen verhält – obwohl die ja nicht mehr seien als das: Spekulationen, fernab der Realität, praktisch kein Thema in der Partei. 

Wirklich?

Ein Beispiel. Nach dem Jahreswechsel hat Scholz ein Interview gegeben. Darin schlug der Kanzler einen neuen Ton an, ließ Selbstkritik anklingen. Wer wollte, konnte daraus herauslesen: So geht’s nicht weiter. Für Scholz, der sich stets unbeirrt und unbeirrbar gibt, ein durchaus bemerkenswerter Vorgang – und ein Signal an seine Partei: Ich habe verstanden.

Doch wer in die SPD hineinhorchte, hörte häufiger Sätze wie: Das Interview muss ich noch lesen. Oder: Habe ich gelesen, weil ich ja irgendwie muss. Neugier, Erleichterung, gar Begeisterung? Eher nicht. 

Sehr aufmerksam registriert und seziert wurde hingegen, was Pistorius nur einen Tag nach Veröffentlichung des Scholz-Interviews sagte – oder vielmehr: nicht sagte. Der Beliebtheitsminister hatte mit der "Bild"-Zeitung über die Reservekanzler-Gerüchte gesprochen. Und diese, zumindest in der Wahrnehmung vieler Genossen, nicht konsequent ausgetreten.

Warum? Das weiß wohl nur Pistorius selbst. Manche Genossen vermuten keine böse Absicht und betonen sein loyales Gemüt. Andere unterstellen, dass Pistorius durchaus Gefallen an dieser Form der Aufmerksamkeit haben könnte. So oder so: Der angeschlagene Kanzler kann kaum gutheißen, dass seine vermeintliche Reserve die Gerüchte am Köcheln hält. 

Pistorius einzunorden dürfte jedoch keine Option sein, jedenfalls keine gewinnbringende. Das würde die Spekulationen erst recht befeuern und könnte sich als taktisch unklug erweisen. Die strauchelenden Sozialdemokraten würden den derzeit beliebtesten (SPD-)Politiker des Landes öffentlich anzählen und in Misskredit bringen. Das kann man sich angesichts der miesen Umfragewerte – für Partei und Kanzler – eigentlich nicht erlauben. 

Auf dem Balkan ist die Gerüchteküche weit weg

Die Berliner Gerüchteküche ist auf dem Balkan weit weg. Selbst die Handvoll Bundestagsabgeordneten, die Pistorius begleiten, halten sich mit innenpolitischen Kommentaren zurück. Hier geht es nicht um Ampelnickeligkeiten, sondern um die Frage, ob auf dem Balkan ein neuer Krieg ausbricht. Die Kriege der Vergangenheit haben in der Region tausende von Menschenleben gekostet und bis heute tiefe Traumata hinterlassen.

Aus kosovarischer Sicht ist der deutsche Verteidigungsminister ein wichtiger Garant für die Sicherheit des Landes. Und er enttäuscht die Hoffnungen nicht. Pistorius kündigt an, das deutsche Kfor-Kontingent um eine weitere Infanteriekompanie zu verstärken. Ab Mai sollen rund 250 Soldatinnen und Soldaten in Kosovo stationiert sein, momentan sind es rund 90.

Das ist genau genommen keine Neuigkeit, das wurde schon im vergangenen Jahr bekannt, aber bei den kosovarischen Gesprächspartnern kommt das Signal der Unterstützung gut an. Genauso wie Pistorius‘ Versicherung an die kosovarische Präsidentin, er sei "bereit, mehr zu tun", wenn Leute meinen würde, "hier ein eigenes Spiel spielen zu können".

Das ist eine ungewöhnlich deutliche Warnung an den serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić, den Pistorius am Mittwochnachmittag zum Abschluss seiner Reise in Belgrad trifft. Dort muss er besonderes diplomatisches Fingerspitzengefühl beweisen. Vučić wirkt oft weich in Konturen und Gestik. Tatsächlich aber ist er ein knallharter Machtmensch, der seit Jahren in Richtung EU-Mitgliedschaft blinkt und dann immer mal wieder Richtung Russland abbiegt. "Schaukelpolitik" nennt man das in der Politikwissenschaft. Man muss gut vorbereitet sein, um sich nicht von seinen Wortgirlanden einlullen zu lassen. 

Erste Kratzer am Bild des Mi(ni)ster Perfect

Zu Hause warten andere Sorgen auf Pistorius. Noch führt er alle Beliebtheitsumfragen an. Doch kürzlich gab es erste Kratzer am Bild des Mi(ni)ster Perfect. Der "Spiegel" berichtete, dass sich der Personalrat des Verteidigungsministeriums gegen eine recht zahme Reform des Ministers im eigenen Haus in einem Brief vehement zur Wehr setzte. 

Derweil gehen der Truppe, die doch wieder "kriegstüchtig" (Pistorius) werden soll, die Rekruten aus. Trotz der großen Ankündigung des Ministers, wieder mehr Menschen für die Bundeswehr gewinnen zu wollen, ging die Zahl der Bewerber laut "Spiegel" zurück. 

Nach Ostern will Pistorius die Reform der Streitkräfte angehen. Es geht um grundsätzliche Strukturen, um Personalabbau. Auch hier ist Widerstand zu erwarten. Aus dem "Mann, der auch Kanzler könnte" könnte dann schnell die "Absturz eines Superministers"-Erzählung werden.

Würde Pistorius Kanzler werden wollen?

Doch will Pistorius überhaupt Kanzler werden? Zutrauen würde sich der 63-jährige Niedersachse das Amt zweifelsohne, an Selbstbewusstsein mangelt es ihm nicht. Aber er ist kein Königsmörder. "Für mich ist das kein Sprungbrett für höhere Aufgaben", hat Pistorius dem stern kürzlich über seinen Job erzählt. Man müsste ihn also rufen. Und das ist unwahrscheinlich. 

Olaf Scholz ist keiner, der seinen Platz freiwillig jemand anderem überlassen würde. Und die SPD, bei allem Gemecker hinter den Kulissen, keine Kanzlersturz-Partei. Andererseits gibt es immer wieder Überraschungen in der Politik. Dass Olaf Scholz es trotz zunächst desaströser Umfragewerte als SPD-Spitzenkandidat doch noch zum Kanzler bringen würde, hatten die meisten politischen Beobachter auch nicht für möglich gehalten. 

"Geduld" ist ein Begriff, den Pistorius häufig auf seiner Balkan-Reise verwendet. Um die Akteure in der Region zu Gelassenheit aufzurufen. Und um ihnen gleichzeitig nicht die Hoffnung zu nehmen, dass es mit dem großen Ziel, der Mitgliedschaft in der EU oder der Nato, irgendwann klappen wird.

Auch für Pistorius könnte Geduld eine gute Übung sein. Wenn er den nächsten Schritt nicht ganz aus den Augen verlieren will.