Manche Aussagen altern äußerst schlecht und schneller als gedacht. Ein aktuelles Beispiel: Er hätte ja gut darauf verzichten können, sagte ein selbstkritischer Olaf Scholz erst vor wenigen Tagen, aber leider sei es der Regierung "zu selten gelungen, wichtige Beschlüsse ohne langwierige öffentliche Auseinandersetzungen zu treffen." Gefragt wurde der Bundeskanzler nach dem Erscheinungsbild der Koalition, das bekanntlich besser sein könnte. Aber Scholz gab sich zuversichtlich: Die zentralen Streitfragen hätten die Ampel-Partner nun weitgehend ausgehandelt. Jetzt wird‘s weniger rauflustig, sollte das wohl heißen.
Die Aussagen liegen ungefähr eine Woche zurück. Schon führt die Ampel-Koalition wieder eine öffentliche Auseinandersetzung. Und diessmal ist sogar fraglich, ob am Ende dieses Zoffs überhaupt ein Beschluss steht.
Kurz vor knapp hat die FDP eine Zustimmung Deutschlands zum EU-Lieferkettengesetz abgelehnt. Damit könnte das Vorhaben insgesamt auf der Kippe stehen. Kann sich die Koalition nicht auf eine gemeinsame Haltung verständigen, müsste sich Deutschland bei der Abstimmung in Brüssel enthalten – was im Ergebnis wie eine "Nein"-Stimme gewertet würde. Die nötige Mehrheit für die EU-Pläne ist somit fraglich. Es wird befürchtet, dass eine ablehnende Haltung Deutschlands auch andere Länder veranlassen könnte, den Plänen nicht zuzustimmen. So soll auch Frankreich soll dem Gesetz skeptisch gegenüberstehen. Schon kommenden Freitag sollte über die Richtlinie entschieden werden.
Große Wirtschaftsverbände sind begeistert von dieser Aussicht, die Koalitionspartner erzürnt. Insbesondere die SPD übt scharfe Kritik an der Blockadehaltung der Liberalen.
"Ich erwarte eine Zustimmung Deutschlands zum europäischen Lieferkettengesetz und ein Ende der Blockade durch die FDP", sagte SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert zum stern. "Nur dann herrschen künftig gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle." Deutschland habe ein Lieferkettengesetz, die anderen EU-Staaten nicht. "Doch in wenigen Tagen bietet sich für die Bundesregierung die Möglichkeit, gleiche Rechte und Pflichten für alle Marktteilnehmer durchzusetzen." Er könne sich nicht vorstellen, dass marktwirtschaftlich orientierte Liberale die Verantwortung dafür tragen wollten, dass die Bekämpfung von Ausbeutung zum Nachteil im internationalen Wettbewerb werde.
Die SPD hatte maßgeblich das deutsche Lieferkettengesetz auf den Weg gebracht und engagiert für eine europäische Richtlinie gestritten. Sie soll große Unternehmen zur Rechenschaft ziehen, wenn sie etwa von Kinder- oder Zwangsarbeit außerhalb der EU profitieren. Größere Unternehmen sollen zudem stärker auf die Einhaltung der Pariser Klimaziele zur Begrenzung der Erderwärmung verpflichtet werden. Wer sich nicht daran hält, muss mit Bußgeldern oder Klagen rechnen. Die Verhandlungen darüber laufen seit fast zwei Jahren.
Doch kurz vor den abschließenden Beratungen in Brüssel haben sich die von der FDP geführten Ministerien für Justiz und Finanzen gegen die Pläne gestellt. In einem Schreiben der Minister Marco Buschmann und Christian Lindner zum letzten Verhandlungsstand heißt es, beide Häuser "können das Ergebnis nicht mittragen".

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Die FDP-Minister kritisieren, das EU-Gesetz werde dazu führen, dass Unternehmen für Pflichtverletzungen in der Lieferkette in erheblicher Weise zivilrechtlich haften. Außerdem wären deutlich mehr Unternehmen betroffen als nach aktueller deutscher Rechtslage. Auch der Bausektor solle als sogenannter Risikosektor eingestuft werden. Insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen in diesem Bereich könne das existenzbedrohend sein. "Viele Betriebe verfügen unserem Eindruck nach schlichtweg nicht über die entsprechenden personellen und finanziellen Ressourcen", argumentieren Buschmann und Lindner. "Es ist zu befürchten, dass noch weniger gebaut würde in Deutschland."
Justizminister Buschmann sagte der Deutschen Presse-Agentur, "der Schutz der Menschenrechte gehört zum Selbstverständnis der EU". Daher unterstütze er uneingeschränkt das von der Richtlinie verfolgte Ziel, einen besseren Schutz von Menschenrechten und Umwelt in den Lieferketten europäischer Unternehmen sicherzustellen. Dieses Ziel dürfe aber nicht zu einer "Selbststrangulierung unseres Wirtschaftsstandorts" führen. "Unsere Sorgen sind nicht entkräftet, die Risiken für die europäische und deutsche Wirtschaft überwiegen." Im Rat der Europäischen Union habe dies eine Enthaltung Deutschlands zur Folge, die im Ergebnis wie eine "Nein"-Stimme wirke.
SPD-Nachwuchs kritisiert "neoliberale Engstirnigkeit"
Für Philipp Türmer zeigt die Blockade jedoch einmal mehr, "welch Geistes Kind die FDP ist". Der Vorsitzende der Jusos – also der SPD-Nachwuchsorganisation – wirft ihr "neoliberale Engstirnigkeit" vor.
"Statt für faire und gleiche Wettbewerbsbedingungen in ganz Europa zu sorgen, stärkt man lieber Kinderarbeit und Umweltzerstörung", sagte Türmer dem stern. Dabei würden Buschmann und Lindner in Kauf nehmen, "dass das aufgrund ihres Parteifreundes Volker Wissing angeknackste Bild Deutschlands in europäischen Verhandlungen weitere Risse erhält". Der FDP-Verkehrsminister hatte im März vergangenen Jahres den EU-Kompromiss zum Aus von Verbrennermotoren durch eine Blockade verzögert und damit für Irritationen in Brüssel gesorgt. "Eine Partei, die so ignorant gegenüber den Partnerinnen und Partnern in Europa auftritt", sagte Türmer, "muss sich nicht wundern, wenn sie bei der nächsten Europawahl ein blaues Auge kassiert". Der Juso-Chef forderte "die beiden gelben Blockade-Minister" zum Einlenken auf.
Um die Liberalen zu besänftigen und doch noch eine Einigung zu ermöglichen, schlug Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) am Donnerstag einen Kompromissvorschlag vor. Mit seinen neuen Vorschlägen wolle er nun "Brücken bauen" und bürokratische Lasten abbauen, sagte Heil.
Mit seinen Vorschlägen will Heil die deutsche Lieferkettenregulierung ändern. So sollen die jährlichen Berichtspflichten der Unternehmen durch das deutsche Lieferkettengesetz ausgesetzt werden. Betroffen wären laut Heils Eckpunkten rund 3000 Unternehmen. Heute müssen die Firmen regelmäßig über die Erfüllung ihrer Sorgfaltspflichten gegen Kinderarbeit und für Menschenrechte einen Bericht veröffentlichen, der vom Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle überprüft wird.
Stärker berücksichtigt werden soll zudem, wenn es in einem Land, in dem etwa Produkte für den deutschen Markt hergestellt werden, ein niedrigeres Niveau von Rechtsdurchsetzung herrscht. Mehr Raum soll es für Initiativen ganzer Branchen geben, die einzelne Unternehmen entlasten können.
Aus Sicht des SPD-Generalsekretärs würde Heils Paket viele Bedenken aufgreifen und auch entkräften. "Darin ist geregelt, dass durch das europäische Lieferkettengesetz keine neuen Berichtspflichten für deutsche Unternehmen entstehen", betonte Kühnert gegenüber dem stern. Auch sei der Ansatz der Risikoabwägung gestärkt worden, wonach Unternehmen ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die schwierigsten Teile einer Lieferkette richten sollen. "Kleidungsstücke aus Bangladesch verdienen folglich mehr Aufmerksamkeit als Pasta aus Italien", bringt es Kühnert auf den Punkt.
Er appellierte an die FDP, ihre Haltung zu überdenken. "Stimmt Deutschland in der kommenden Woche nicht zu, dann wäre das eine Entscheidung zum mittel- und langfristigen Nachteil des Standortes Deutschland", sagte der SPD-Generalsekretär. Unternehmen würden womöglich andere europäische Standorte stärken oder im schlimmsten Fall deutsche Standorte aufgeben. Eine ablehnende Haltung Deutschlands sei daher "weder im Interesse unserer Volkswirtschaft, noch im Interesse eines Bürokratieabbaus mit Augenmaß", sagte Kühnert.
Mit Unverständnis reagierten auch die Grünen in Berlin und Brüssel auf die Blockade. "Ein Kompromiss gehört in der Demokratie dazu", erklärte Katharina Dröge, die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag. Es sei gut, dass Arbeitsminister Heil noch einmal Vorschläge gemacht hat, die Unternehmen entlasten. "Damit geht er auf Bedenken der FDP ein. Damit sollte Deutschland nun aber auch dem europäischen Lieferkettengesetz zustimmen."
Die grüne Europaabgeordnete Anna Cavazzini, die zugleich Vorsitzende des Verbraucherschutzausschusses des Europäischen Parlaments ist, sagte im Deutschlandfunk, die Regelungen seien mit allen Mitgliedsländern über mehrere Jahre hinweg ausgehandelt worden. Es sei daher befremdlich, wenn die Bundesregierung quasi in letzter Minute einen Rückzieher mache. Dadurch werde Deutschlands Ruf als verlässlicher Verhandlungspartner aufs Spiel gesetzt.