Viel Zeit bleibt Joachim Löw nicht, um die Ursachen für das historische Aus in der Vorrunde einer Weltmeisterschaft auszumachen. Nach der in fünf Tagen Selbstfindung geklärten Zukunft als Bundestrainer muss der entthronte Weltmeister-Coach Antworten finden. Einen Plan oder genaue Themen verriet Löw noch nicht. Teammanager Oliver Bierhoff deutete an, dass es auch mit Spielern der Nationalmannschaft in den kommenden Wochen intensive Gespräch geben muss.
Die Deadline ist dabei klar. Wenn Deutschland am 6. September in München gegen das bei der WM so stark aufspielende Frankreich in die neue Nations League startet, soll der WM-Albtraum aufgearbeitet sein.
Um welche Problemfelder muss sich Joachim Löw vordergründig kümmern?
Die Spieler: Ein Umbruch muss her, aber wie? Noch ist keiner der 23 WM-Akteure zurückgetreten. Nur Mario Gomez, Sami Khedira und Kapitän Manuel Neuer, der den Neuaufbau definitiv mitgestalten will, sind schon über 30. Die Ex-Weltmeister Mats Hummels, Jérôme Boateng, Thomas Müller, Toni Kroos und Mesut Özil sind alle Ende zwanzig und damit noch jung genug für mindestens ein weiteres Turnier. Bis vor wenigen Wochen galten sie noch als unverzichtbar. Opfert Löw lange Weggefährten für ein Signal der Erneuerung? Um das Leistungsprinzip wird er in Zukunft nicht herumkommen, wenn er etwas Neues aufbauen will. Die Generation Confed-Cup um Julian Draxler, Leon Goretzka und Marc-André ter Stegen wird sicher mehr Verantwortung bekommen, auch wenn Draxler und Goretzka in Russland nicht zu überzeugen wussten.
Das Özil/Gündogan-Problem: Löw hat zu gesellschaftlichen Themen eine Meinung und scheut sich nicht, sie zu äußern. Multikulturalität ist ihm wichtig. Seine Aussagen zu der Affäre von Mesut Özil und Ilkay Gündogan um die Fotos mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayipp Erdogan wirkten da bislang eher schwammig. Gut möglich, dass er sich nun deutlicher hinter das hart attackierte Duo stellt - auch gegen Widerstände der Fans und aus dem DFB. Verbandsvize Rainer Koch hatte schon während der WM die endgültige Klärung für die Zeit nach dem Turnier angekündigt. Sollten sich Löw oder der DFB von den Spielern abwenden, würden alle Anti-Rassismus- und Integrationskampagnen konterkariert werden.
Der Trainerstab: Die Aufgabenteilung um Löw ist klar. Andreas Köpke kümmert sich seit Jahren um die Torhüter. Marcus Sorg rückte in die Rolle des Taktikanalytikers und löste gefühlt Thomas Schneider als wichtigsten Assistenten ab. Für eineinhalb Jahre schnupperte auch Miroslav Klose als Sturmtrainer-Azubi rein, geht aber nun als Jugendcoach zum FC Bayern. Als graue Eminenz gilt Chefscout Urs Siegenthaler. Personelle Veränderungen in diesem Gebilde sind nicht ausgeschlossen. Gerade gegen Mexiko wurden taktische Defizite nicht behoben. Löw kann einen Einflüsterer an der Linie gut gebrauchen.
Der DFB-Apparat: Öffentlich sichtbar wurde die Entourage durch die Rüpel-Aktion von zwei Mitarbeitern nach dem Schweden-Spiel an der Seitenlinie. Für einen perfekten logistischen Ablauf hat Bierhoff für alle Lebensbereiche einen riesigen Stab um das Nationalteam gebildet. Schon vor dem WM-Triumph 2014 wurde die "Wohlfühl-Oase" zum geflügelten Wort - Bierhoff missbilligte diese Sichtweise. Nun stehen auch die Abläufe beim Team hinter dem Team auf dem Prüfstand.
Die Nähe zu den Fans: Entfremdung ist das Schlagwort nach dem WM-K.o. Die Frage nach der Nähe der Glitzer-Profis zu ihren Fans müssen sich Löw wie Bierhoff gefallen lassen. Geheimtraining, Abschottung in Nobelhotels und teure Tickets - diese Tendenz wurde schon vor der WM diskutiert. Auch der Umgang mit den Medien, die bei der finalen Kadernominierung keine Fragen stellen durften, ist ein sensibles Thema. "Die WM bringt natürlich auch Themen mit sich, die wir angehen müssen, die wir diskutieren müssen. Viele Dinge werden aus dem Zusammenhang gerissen. Da wird auch von Entfremdung gesprochen. Wir haben gesehen, dass wir vor dem Turnier hohe Einschaltquoten beim Fernsehen haben, wir haben großes Interesse", meint Bierhoff.
Das eigene Selbstverständnis: Joachim Löw kann tun und lassen, was er will. Diese These hatte - getrieben durch das Hochgefühl des WM-Sieges - ihre Berechtigung. Ein Regulativ hatte der Bundestrainer innerhalb des DFB scheinbar nicht. Der Bonvivant aus Freiburg setzte selbst die Kriterien für seine Arbeitsabläufe. Das ging gut, solange der Erfolg da war. Im Misserfolg wurden TV-Werbespots oder Fotos an einer Laterne in Sotschi zum Problem. Beim DFB erkannte man die Probleme offenbar schon vor der Russland-Pleite. Generalsekretär Friedrich Curtius monierte in Interviews eine auch von Bierhoff betriebene Abkapselung beim A-Team.
Das Auftreten der Mannschaft: Hatte die deutsche Mannschaft bei der WM ein Motivationsproblem? Einige Beobachter hatten den Eindruck, dass das Team nicht bereit war, wirklich 100 Prozent zu geben. Auch Südkoreas Trainer, der diese Erkenntnis sogar nutzte, um seine Elf auf das Spiel gegen Deutschland einzustimmen. Vor der Partie soll Tae-yong Shin folgendes gesagt haben: "Die deutschen Spieler haben die Nase weit oben, sie sind arrogant, sie haben schon alles gewonnen und wollen nichts mehr erreichen. Deutschland hat keinen Hunger mehr." Das verriet Südkoreas Nationalspieler Ja Cheol Koo gegenüber der "Sport Bild". Die Rechnung ging ganz offensichtlich auf. Koo bestätigte des Trainers Prognose nach dem Spiel: "Ich habe tatsächlich gefühlt, dass Deutschland auf dem Platz keinen Hunger hatte. Sie sind nicht so viel gelaufen, waren nicht so aggressiv. Sie haben eigentlich mehr Qualitäten."
Auf Löw kommt also jede Menge Arbeit zu. Aber wie er nach seiner Entscheidung weiterzumachen selbst gesagt hat, möchte er "mit ganzem Einsatz den Neuaufbau gestalten". Bundestrainer ist schließlich sein Traumjob.
