In einer Woche dauert der russische Feldzug gegen die Ukraine 100 Tage an, seitdem versucht die westliche Allianz das Kriegstreiben durch geschlossenes und entschlossenes Handeln einzuhegen und bestenfalls zu beenden. Bisher vergebens. Weder weitreichende Sanktionen, noch milliardenschweren Waffenlieferungen an die Ukraine konnten Kremlherrscher Wladimir Putin von seinem Kriegskurs abbringen.
Joe Biden hat das kommen sehen. Im Kampf für Freiheit und Demokratie sei daher eines entscheidend, sagte der US-Präsident schon Ende März: ein "langer Atem."
Ukraine: Wo der Zusammenhalt des Westens erste Risse bekommt
Vor der historischen Kulisse des Warschauer Königsschlosses in Polen beschwor Biden die Verbündeten der Ukraine: "Wir müssen uns jetzt verpflichten, für diesen Kampf einen langen Atem zu haben. Wir müssen geeint bleiben – heute, morgen, übermorgen und in den kommenden Jahren und Jahrzehnten." Einfach werde das nicht, so der US-Präsident, die Anstrengungen würden mit Kosten verbunden sein. "Aber das ist ein Preis, den wir zahlen müssen."
Allerdings deutet sich schon jetzt an, dass die Einheit zu bröckeln beginnt und die Front gegen Russland erste Risse bekommt:
- Es gibt unterschiedliche Auffassungen über das Kriegsziel. Zwar besteht Einigkeit darüber, dass Russland nicht gewinnen darf. Doch wo beginnt eine Niederlage Russlands – und wo ein Sieg der Ukraine? Die Antworten fallen unterschiedlich aus: Großbritannien sieht einen Sieg der Ukraine als "strategischen Imperativ", Russland müsse "aus der gesamten Ukraine" verdrängt werden. Die USA streben an, dass Russland "so weit geschwächt wird, dass es zu so etwas wie dem Einmarsch in der Ukraine nicht mehr in der Lage ist." Und Deutschland lässt Raum für Spekulationen: "Russland darf nicht gewinnen, die Ukraine muss bestehen", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz.
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- Es gibt unterschiedliche Auffassungen über den EU-Beitritt der Ukraine. Präsident Wolodymyr Selenksyj drängt seit Kriegsbeginn auf die Mitgliedschaft im Schnellverfahren, hofft derzeit auf den Kandidatenstatus für sein Land. Polen sicherte der Ukraine seine volle Unterstützung zu, weniger energisch zeigten sich Deutschland und Frankreich: Der französische Präsident Emmanuel Macron dämpfte die Erwartungen, sagte, ein Beitritt könne "Jahrzehnte" dauern und deutete eine Zwischenlösung an, Bundeskanzler Scholz mahnte "keine Abkürzungen" in die EU an.
- Es gibt unterschiedliche Auffassungen über die Ausweitung der Nato. Nach Jahrzehnten der Neutralität wollen Schweden und Finnland dem westlichen Verteidigungsbündnis beitreten, reichten offiziell ihre Aufnahmeanträge ein, und werden dabei von allen Mitgliedsstaaten unterstützt – bis auf einem: Die Türkei stellt sich offenbar aus nationalen Interessen quer, blockiert einen schnellen Beitrittsprozess, müssen doch alle 30 Nato-Staaten dem Gesuch zustimmen.
- Es gibt unterschiedliche Auffassungen bei einem Öl-Embargo gegen Russland. Die Maßnahme soll Teil des sechsten EU-Sanktionspakets sein, das mehrere Länder kritisch sehen – allen voran Ungarn. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hält eine Einigung zwar noch für möglich, allerdings hält der ungarische Regierungschef Viktor Orban bislang an seiner Blockade für das geplante Ölembargo fest. Es sei "sehr unwahrscheinlich, dass vor dem Sondergipfel des Europäischen Rates am 30. und 31. Mai eine umfassende Lösung gefunden werden kann", schrieb er in einem Brief an EU-Ratspräsident Charles Michel. Die von der EU-Kommission vorgeschlagenen Sanktionen würden zu "schweren Störungen der Energieversorgung" in Ungarn führen. Unlängst beklagt der ukrainische Präsident Selenskyj die Zögerlichkeit der Europäer.
- Es gibt unterschiedliche Auffassungen bei den Waffenlieferungen für die Ukraine. Litauen forderte unlängst, das Land mit einer Vielzahl von Waffen zu beliefern. Derweil kommt es zu Verstimmungen im westlichen Bündnis: Polen wirft Deutschland vor, seine Zusagen nicht einzuhalten. "Militärisch wird die Ukraine von Berlin schlicht und einfach im Stich gelassen", kritisierte der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrj Melnyk, die Bundesregierung. Zusätzlich sorgt eine mutmaßliche Absprache unter den Nato-Staaten für Aufsehen, wonach einige Waffen nicht an die Ukraine geliefert werden sollen aus Sorge vor einer weiteren Eskalation. Dazu gehören auch Waffen, die im Kampf gegen Russland laut dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj dringend gebraucht werden.
Putin provoziert das nächste Streitthema
Und es könnte sich ein weiteres Streitthema auftun, kalkuliert platziert vom russischen Präsidenten: Nach Kremlangaben deutete Putin seinem italienischen Amtskollegen Mario Draghi in einem Telefonat an, die Getreideexporte aus der Ukraine nicht mehr zu blockieren – wenn der Westen im Gegenzug seine Sanktionen gegen Russland aufhebt.
Zum Hintergrund: Russland und die Ukraine sind große Getreideexporteure mit einer wichtigen Rolle für die Welternährung. Kiew wirft Russland vor, die Schwarzmeer-Häfen mit Kriegsschiffen zu blockieren und so die für die Welternährung wichtige Weizenausfuhr zu verhindern.

Die US-Regierung wies die russischen Forderungen umgehend zurück. "Es ist Russland, das aktiv die Ausfuhr von Lebensmitteln aus ukrainischen Häfen blockiert und den Hunger in der Welt vergrößert", sagte die Sprecherin des Weißen Hauses, Karine Jean-Pierre am Donnerstag in Washington. Es würden Tonnen von Getreide in Silos in der Ukraine und auf Schiffen lagern, die wegen der russischen Seeblockade nicht verschifft werden könnten. Die Sanktionen würden weder die Ausfuhr noch die notwendigen Geldtransaktionen verhindern. Es gebe derzeit keine Diskussion darüber, Sanktionen aufzuheben, so Jean-Pierre.
Es ist offenkundig, welches Ziel Russland mit der jüngsten Rochade verfolgt. Immer wieder testet der russische Präsident die Schmerzgrenze der westlichen Allianz aus, versucht die Entschlossenheit mit Drohgebärden (vor einem Atomkrieg) und dem Wecken von Begehrlichkeiten (Lebensmittel und Energie) zu unterminieren und so einen Keil zwischen die Unterstützer der Ukraine zu treiben.
Mit anderen Worten: "Russland führt seinen brutalen Krieg nicht nur mit Panzern, Raketen und Bomben. Russland führt diesen Krieg mit einer anderen schrecklichen und leiseren Waffe: Hunger und Entbehrung", wie Bundesaußenministerin Annalena Baerbock sagte.
Baerbock war es auch, die schon vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine das entscheidende Kampfgerät im westlichen Arsenal gegen den Aggressor benannte: "Unsere stärkste Waffe ist und bleibt unsere Einigkeit", sagte sie im Januar, als sich die russischen Truppen vor der Ukraine formierten.
Das ist nun eine Zeitenwende her. Der Krieg geht bald in den 100. Tag, die Angriffe auf die Ukraine reißen nicht ab. Doch die stärkste Waffe im Kampf gegen das Kriegstreiben des Kremlherrschers bleibt die Einigkeit, wie das westliche Bündnis seitdem immer wieder betont. "Er hatte geglaubt, die westlichen Alliierten würden sich zerstreiten und auseinanderfallen, wenn er den Krieg befiehlt. Das ist nicht passiert", sagte Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht. Aber das hält Putin offenkundig nicht davon ab, es immer wieder zu versuchen.
Quellen: "Zeit Online", "Frankfurter Allgemeine Zeitung", Bayerischer Rundfunk, "Tagesschau.de", "Süddeutsche Zeitung", Redaktionsnetzwerk Deutschland, "Handelsblatt", "Hamburger Abendblatt", "Die Welt",