Seit Wladimir Putin an der Macht ist, kommen regelmäßig Gerüchte über angebliche Erkrankungen des russischen Präsidenten auf. Offiziell bestätigt oder bewiesen wurde nie etwas, abgesehen von einer schweren Rückenverletzung im Jahr 2012, die der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko ausplauderte. Putin hatte sich offenbar bei einem Sport- oder Reitunfall den Rücken verletzt, so dass er bei einem öffentlichen Auftritt Wochen später deutlich humpelte.
Der Rest war und ist immer reine Spekulation gewesen. Demnach litt der russische Präsident schon an diversen Krebsarten (Bauchspeicheldrüse, Schilddrüse und Rückenmark, um nur einige zu nennen). Immer in der Verlosung ist das Gerücht um eine Parkinson-Erkrankung, wahlweise kommen noch Lepra oder das Asperger-Syndrom hinzu. Oft sind die Gerüchte auf Aussagen von Einzelpersonen aus dem weiteren Umfeld Putins zurückzuführen, die angeblich etwas wissen.
Theoretisch kann Wladimir Putin bis 2036 regieren
Und westliche Medien greifen die Geschichten um Erkrankung und Verfall des Kremlchefs gerne auf. Die wilden Gerüchte über angeblich schwere Krankheiten haben sicherlich eine gewisse kompensatorische Funktion: Putin, der skrupellose Diktator und Kriegsherr, der so viel Leid über so viele Menschen bringt – wer wünscht sich da nicht, dass eine Krankheit ihn einfach dahinrafft. Doch leider ist der russische Präsident offenbar putzmunter. Selbst seine panische Angst vor einer Corona-Infektion, hat nichts daran geändert, dass er seine Pläne für einen Angriff auf die Ukraine in grausame Tat umsetzte.
Aber was würde im Fall einer schweren Erkrankung oder gar dem plötzlichen Ableben Putins passieren? Theoretisch könnte der Kremlchef noch bis 2036 regieren, er wäre dann 84 Jahre alt. Das ist seit einer Verfassungsänderung vor zwei Jahren möglich. Damals wurde die Beschränkung auf zwei Amtszeiten kassiert und der Präsident mit noch mehr Macht ausgestattet. Für den Fall, dass er das Amt nicht mehr ausüben kann, hat die russische Verfassung ein klar geregeltes Verfahren vorgesehen, wie Dr. Fabian Burghardt vom Leibniz-Institut für Süd- und Südosteuropaforschung im "n-tv"-Podcast "Wieder was gelernt" erläutert.
Der Artikel 290 der Verfassung und ein Gesetz über die Wahl des Präsidenten regeln das Verfahren: "Die russische Verfassung sagt automatisch, sollte der russische Präsident sterben, würde der Premierminister, heute wäre das Michail Mischustin, provisorischer Interimspräsident werden", sagt Burghardt. Auf den Premierminister gingen "alle Kompetenzen des russischen Präsidenten über", zum Beispiel auch die Entscheidung über den Einsatz von Atomwaffen. Es gäbe aber Ausnahmen: Der Interimspräsident könnte das Parlament, die Staatsduma, nicht auflösen, keine nationales Referendum ausrufen und keine Verfassungsänderung in Gang setzen.
Auch im Fall einer schweren Krankheit kann das Nachfolgeverfahren einsetzen
Zudem ist die Amtsdauer des Interimspräsidenten beschränkt. Die Verfassung sieht Neuwahlen innerhalb Innerhalb von drei Monaten vor und der Föderationsrat, die obere Kammer des russischen Parlaments, muss den Wahltag innerhalb von zwei Wochen festlegen. Passiert das nicht, legt die Zentrale Wahlkommission schnelle Neuwahlen fest, erläutert Burghardt.
Das Verfahren greife auch im Fall einer schweren Erkrankung, so der Russland-Experte. Es sei aber nicht klar definiert, welcher Art und wie schwer diese Krankheit sein müsse. Dadurch gäbe es sehr "viele offene Fragen". Versuche, hier klarere Regelungen zu schaffen, sind in der Vergangenheit nicht zu Ende geführt worden.
Ein Grund, warum für den Krankheitsfall nur eine schwammige Regelung existiert, liegt natürlich an der Tatsache, dass die Gesundheit des russischen Präsidenten immer eine Frage der nationalen Sicherheit war und ist: "Im Idealfall wäre es natürlich so, dass es eine medizinische Kommission gäbe, dass dann auch die Leibärzte vom Präsidenten den Premierminister informieren, sollte es eintreten, dass der Präsident schwere gesundheitliche Probleme hat." Die medizinische Kommission müsste darüber entscheiden, ob die Amtsgeschäfte an den Premierminister übergingen.
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Die Frage ist: Halten sich alle an die Verfassung?
Für einen solchen Prozess müsste es jedoch ein offeneres System geben, das transparent mit den Informationen über den Gesundheitszustand des Präsidenten umgehe. In der Anfangszeit von Putins Herrschaft wurde offen darüber debattiert, inwieweit die Immunität des Präsidenten greife und eine Geheimhaltung seines Gesundheitszustandes erlaube. Aber die Arkanpolitik hat sich durchgesetzt, so wie es bereits Tradition in der Sowjetunion war: Der Gesundheitszustand des mächtigsten Mannes im Staate unterliegt absoluter Geheimhaltung. Das hat auch viel mit dem internen Machterhalt zu tun. Ein kranker Präsident könnte schnell in Konflikte mit den Eliten geraten, es würden Machtkämpfe ausbrechen, skizziert Burghardt.
Unabhängig von diesen Fragen betont der Russland-Experte aber, dass es keinesfalls sicher sei, dass die Verfassungsregelung wirklich eingehalten würde, wenn Putin sein Amt nicht mehr ausüben könnte. Denn da ist noch Dmitri Medwedew. Der Hardliner gilt als enger Verbündeter Putins. Er war von 2008 bis 2012 selbst russischer Präsident, als Putin sich auf das Amt des Premierminister zurückzog, um danach wieder an die Spitze zu rücken. Putin hebelte so die Beschränkung auf zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten aus. Medwedew wurde erneut Premierminister und blieb es bis 2020.
Als Putin damals eine neue Regierung berief, wurde Medwedew stellvertretender Vorsitzender des Sicherheitsrats, ein neu geschaffenes Gremium, das aus den wichtigsten Personen im russischen Staat besteht. Die verfassungsmäßige Rolle des Sicherheitsrates ist im Fall der Übergangsregelung nicht festgelegt: "Dementsprechend hat Medwedew eine Position eingenommen, von der nicht klar ist, wie sie in der Hierarchie im russischen Staat einzuordnen ist. Einerseits im Bezug auf seine engen, persönlichen Beziehungen zu Putin, andererseits auf die formalen Kompetenzen, die er hat."
Dass das Verfassungsverfahren demnächst benötigt wird, ist nach derzeitigem Stand der Dinge unwahrscheinlich. Trotz einer stärker werdenden Opposition im Lande, sieht es nicht danach aus, dass die Macht des Präsidenten wackelt. Zwar weiß im Moment niemand, wie sich der Krieg in der Ukraine künftig entwickelt. Doch vermutlich wird der Ausgang des Konfliktes auch über Putins Schicksal entscheiden.