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"New German Cuisine" Endlich gibt es die neue deutsche Küche – und diese fünf Köche haben sie erfunden

Felix Schneider, Sosein  Das in der Provinz gelegene "Sosein", das der 33-jährige Küchenchef Felix Schneider als "Projekt zur Selbstfindung der deutschen Küche" bezeichnet, war von Anfang an gut besucht. "Wir sind einfach ein Stück eigenständiger als die Generation vor uns", sagt Schneider über sich und seine Kollegen.
Felix Schneider ist Küchenchef in dem Provinz gelegenen Restaurant Sosein. Er ist einer der jungen Köche, die die deutsche Küche neu erfunden hat.
© Cris Civitillo
Im internationalen Vergleich gilt die Foodszene Deutschlands noch immer als konservativ. Doch neben Sterne-Tempeln mit technokratischer Pinzettenküche wachsen Restaurants heran, die Neues wagen. Eine Entwicklung, die mittlerweile auch im Ausland wahrgenommen wird
Von Flora Helmann

Auf der gerade veröffentlichten San-Pellegrino-Rangliste der "World's 50 Best Restaurants" für 2018 ist das Berliner "Restaurant Tim Raue" noch immer Deutschlands bestes Restaurant. Im Vergleich zum Vorjahr hat es sich um elf Plätze verbessert, es rangiert jetzt auf Platz 37. Dennoch wirkt es fast schon ein wenig deplatziert. Ein Restaurant, in dem ein Berliner asiatisch kocht – das soll aktuell das beste hierzulande sein? Eine Frage, die man sich stellen darf. Auch wenn man nicht zu den Menschen gehört, die in einer zeitgenössischen Esskultur in Deutschland ausschließlich die Bewahrung gutbürgerlicher Wirtshausküche sehen. Dass in Deutschland kulinarisch mehr möglich sein muss als das Festhalten an Bekanntem und Bewährtem oder das, was man sich in Frankreich oder Asien abschauen kann – da sind sich immer mehr junge Köche und Gastronomen in Deutschland sicher. Und ihre Bemühungen um neue,
eigenständige Konzepte und Ideen stoßen mittlerweile auch international auf Resonanz.

Das von dem jungen Gastronomen Billy Wagner vor dreieinhalb Jahren in Berlin mit einem "brutal lokalen" Konzept eröffnete Restaurant "Nobelhart & Schmutzig" landete in diesem Jahr erstmals auf der Pellegrino-Liste, auf einem respektablen Platz 88. Sebastian Frank, der in dem mit zwei Sternen dekorierten Berliner "Horváth" die simple, produktfokussierte Küche seiner niederösterreichischen Heimat mit regionalen Zutaten zu einer selbstbewussten und unverwechselbaren kulinarischen Handschrift weiterentwickelt hat, wurde beim internationalen Gastronomie-Kongress "Madrid Fusión" zum "Best European Chef 2018" gewählt. Und auf der viel beachteten, von weit gereisten Hobbyessern zusammengestellten Bestenliste "Opinionated About Dining" (OAD) sind seit diesem Jahr ebenfalls zwei junge Restaurants zu finden, die in Deutschland neue Akzente setzen: das "Sosein" in Heroldsberg bei Nürnberg und das "Ernst", ebenfalls in Berlin.

Dylan Watson-Brawn: Das Wunderkind der neuen deutschen Foodszene

Steve Plotnicki, New Yorker Geschäftsmann, Foodie und Initiator von OAD, habe eines Abends einfach bei ihm im Restaurant gesessen, erzählt Dylan Watson-Brawn, der das "Ernst" vor einem Jahr eröffnet hat. Der 24-jährige Koch wird zurzeit als Wunderkind der neuen deutschen Foodszene gefeiert, obschon er Kanadier ist. Und sich dagegen verwehrt, in seinem Restaurant, das ähnlich wie ein Sushi-Restaurant in Japan lediglich zwölf Gästen an einer hölzernen Theke Platz bietet, deutsche Küche zu machen. "Wir sind ein Restaurant in Deutschland, kein deutsches Restaurant", sagt Watson-Brawn, der als 17-Jähriger nach Tokio ging, um in einem dortigen Drei-Sterne-Restaurant eine Kochlehre zu absolvieren. "Bei uns geht es darum, mit den besten Produkten zu arbeiten und sie in einen Kontext zu setzen, mit dem die Gäste etwas anfangen können. Wo ich das mache, ist mir egal." 

Die Tatsache, dass Watson-Brawn hier gelandet ist, darf man trotzdem als Glücksfall werten. Denn ob er es will oder nicht, die simplen, aber extrem gekonnten und mit Hingabe ausgeführten Kniffe, die er auf allerbeste saisonale Produkte anwendet, machen gewöhnliche Lebensmittel wie Gurken, Sonnenblumenkerne, Heidelbeeren oder Milch zu Delikatessen. Und das sensationell aromatische Fleisch von Mangalitza-Schweinen aus österreichischer Zucht und die Südfrüchte vom Ätna erst recht.

Das Talent von Watson-Brawn hat eine derartige Zugkraft, dass er bei internationalen Foodies angesagte Restaurants wie das Londoner "Ikoyi" und das Pariser "Restaurant A.T" für Pop-ups in die Stadt holt, die bereits ausverkauft sind, bevor sie offiziell angekündigt werden. Neben Watson-Brawn ist die Küche mit jungem, internationalem Personal besetzt, das aus renommierten Avantgarde-Restaurants gezielt ins "Ernst" gekommen ist. Man verliert darüber keine Worte, sondern kocht lieber – als gleichberechtigtes Team. Gestärkte, mit Initialen bestickte Chefkochjacken gibt es nicht, alle tragen dasselbe ungebügelte Leinen-Outfit des Berliner Designers Frank Leder. "Für uns zählt Substanz und ständige Weiterentwicklung", sagt Watson-Brawn. "Sie lässt diese Energie entstehen, die unsere Gäste spüren. Deshalb haben wir Erfolg." 

Für den 36-jährigen Sebastian Frank vom "Horváth" ist dieser Teamgeist und die internationale Vernetzung der jungen Köche ein wichtiger Erfolgsfaktor. In der Vergangenheit seien deutsche Spitzenköche zwar international präsent gewesen, aber eben immer als sie selbst, und nicht als Repräsentanten einer neuen Küche aus Deutschland. "Eine junge Generation, die im Geiste miteinander verbunden ist und an einem Strang zieht, das ist neu und macht stark." Es geht um die bewusste Abkehr vom alles überstrahlenden Ego des Starkochs, man wendet sich lieber Themen zu, die der Millennial-Generation generell wichtig sind: dem Wunsch nach einem nachhaltigeren Leben, das die Jagd nach Statussymbolen ersetzt. "Wir wollen nicht den hundertsten Hummer mit Passionsfrucht und Koriander, den wir zwischen New York und Tokio überall haben können", sagt Frank. "Wir wollen das Kraut von dem Feld dieses bestimmten Bauern, das von dem Koch zubereitet wird, der 50 Meter weiter seiner Arbeit nach. In einer globalisierten Welt wünschen sich die Menschen wieder echte, emotionale, individuelle Erlebnisse."

Eine neue Art von Küche 

Gutes, authentisches Essen ist ein elementarer Bestandteil dieser neuen Erlebniswelt, auch in dieser Hinsicht ist die neue Art von Küche, wie sie gerade in Deutschland entsteht mit der skandinavischen "New Nordic Cuisine" vergleichbar. Deshalb waren für deutsche Standards vergleichsweise radikale neue Restaurants wie das "Nobelhart & Schmutzig" und das "Ernst", aber auch das in der Provinz gelegene "Sosein", das der 33-jährige Küchenchef Felix Schneider als "Projekt zur Selbstfindung der deutschen Küche" bezeichnet, von Anfang an gut besucht. "Wir sind einfach ein Stück eigenständiger als die Generation vor uns", sagt Schneider über sich und seine Kollegen. "Unsere Küche hat sehr viel mit uns selbst zu tun: Wir denken über Problematiken nach und darüber, wie wir darauf mit unserem täglichen Handeln Einfluss nehmen können. Das finden immer mehr Gäste auf der ganzen Welt interessant, weil sie sich mit diesem Ansatz identifizieren können." Dazu gehört beispielsweise, nur noch ganze Tiere zu kaufen und zu verarbeiten. Er finde es spannend, sagt Schneider, das Thema Tradition und die entsprechenden Gerichte immer wieder aufzugreifen und sie auf den Prüfstand zu stellen, statt sie nur zu bewahren. 

Deshalb kombiniert man im "Sosein" Miso mit gelben Erbsen und fermentiert im Berliner "Nobelhart & Schmutzig" Buchweizen aus dem brandenburgischen Fläming mit Koji, einer uralten japanischen Technik. "Es geht um eine Entwicklung", sagt Micha Schäfer, Küchenchef im "Nobelhart & Schmutzig". Früher habe man immer Produkte von anderswo verwendet. "Jetzt schaut man mal, was es hier in der Gegend gibt, und was man damit machen kann." 

Erstaunlich viel, wie die neue Generation von Köchen, die sich der Arbeit mit regionalen Produkten widmet, in kurzer Zeit bewiesen hat. Vor allem in einer Stadt wie Berlin, aus der zurzeit die wesentlichen Impulse für eine neue Art von Küche in Deutschland ausgehen, hätte man damit nicht gerechnet. Als zu karg, zu kulinarisch ausgeblutet galt die durch die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs und die anschließenden Jahrzehnte der Isolation gebeutelte Stadt, vom Umland ganz zu schweigen. Hierin liegt vielleicht auch der Verdienst eines Lokals wie des "Nobelhart & Schmutzig", das wegen seiner Selbstbeschränkung auf Produkte aus Berlin und der nahen Umgebung oft als dogmatisch kritisiert wird: Man hat gezeigt, dass es überall gute Lebensmittel gibt, wenn man sich dafür interessiert, wo sie zu finden sind. Und dass es bessere Lebensmittel geben kann, wenn man sich dafür engagiert.

Berlin ist kulinarischer Impulsgeber für ganz Deutschland

Vor diesem Hintergrund ist 2011 in Berlin-Kreuzberg auch die Markthalle Neun entstanden, die seither zum Symbol geworden ist für eine sich zum Besseren verändernde Kulinarik in Deutschland. Die von einem jungen Team wieder belebte traditionsreiche Markthalle hat mit Lebensmittelanbietern wie der handwerklichen Metzgerei "Kumpel & Keule", der Käserei "Alte Milch"  oder dem regionalen Fisch- und Meeresfrüchtehändler "Küstlichkeiten" und ihrem vielfältigen Streetfood-Angebot wichtige Signale gesendet dafür, dass Wandel Spaß machen und schmecken kann. Und sie hat in einer Region, in der Gastronomen große Schwierigkeiten hatten, an regionale Produkte zu kommen, einen einzigartigen Lieferservice etabliert, der dieses Problem gelöst hat. Der Lieferservice ist eine echte Alternative zu Bio-Großhändlern und hat es für ambitionierte Berliner Restaurants erst möglich gemacht, mit Produzenten aus dem Umland eine tragfähige Geschäftsbeziehung aufzubauen. "Als ich 2010 als Küchenchef im "Horváth" angefangen habe, musste ich mir alles aus dem Ausland kommen lassen, in Berlin gab es nichts in adäquater Qualität", erzählt Sebastian Frank.
Erst mit der Markthalle Neun habe sich das verändert:
"Hier hat man eine Lanze gebrochen für die Verbindung von hiesigen Restaurants und regionalen Produzenten. Dass es heute die Müritzfischer gibt und andere kleine Aquakulturen an der Ostseeküste, hat erst damit begonnen, dass man hier ein Angebot geschaffen hat. Die Nachfrage war immer da." 

Vor dem Hintergrund, dass mit einem guten Angebot auch die Ansprüche der Gäste wachsen, hat die Köchin Sarah Hallmann 2016 ihr Bistro "Hallmann & Klee" im Berliner Bezirk Neukölln eröffnet. Sie hatte zuvor in Michael Hoffmanns mittlerweile geschlossenem Zwei-Sterne-Restaurant "Margaux" gearbeitet, hat Wohl und Wehe der Sterne-Gastronomie erlebt und Hoffmanns aufreibenden Spagat zwischen ambitionierter Produktküche und Gästen, die diesen Ansatz damals noch nicht verstanden. In ihrem eigenen Lokal sollte es lockerer zugehen, die Richtschnur sind Geschmack, Produktqualität und eine Atmosphäre, in der sich alle so wohl fühlen, dass sie am liebsten täglich wieder kommen wollen. Auch das fast ausschließlich aus Frauen bestehende Personal. 

Die 33-Jährige ist auf einem Bauernhof im schwäbischen Ludwigsburg aufgewachsen und sagt, es seien die eindrücklichen Geschmäcker ihrer Kindheit, die sie immer wieder suche. "Sterne-Küche macht für mich keinen Sinn. Ich will genauso gut kochen, aber bezahlbar, mit guten Produkten und Fokus auf Genuss, es soll ein langfristiges Konzept sein ohne Hemmschwellen." Deshalb wird im "Hallmann & Klee" fast alles selbst gebacken, mittags gibt es ein paar Kleinigkeiten, abends ein paar Vorspeisen, drei Hauptgerichte, drei Desserts, Käse vom Berliner Spezialisten Fritz Blomeyer. Das Lokal ist immer voll, die Gäste sind jung und offenbar gern bereit, Geld für gutes Essen auszugeben. "Dass es hier viel Raum gibt für unterschiedliche kulinarische Konzepte, macht Berlin und ganz Deutschland interessant", sagt Sarah Hallmann. Wichtig sei, dass die Szene in Zukunft noch offener werde. 

Das sieht Arlene Stein ähnlich: "Berlin ist innovativ, es ist relativ unbespielt und für viele zugänglich. Diese Vielfalt muss man nutzen, um tragfähige Verbindungen zu schaffen". Die Kanadierin hat im vergangenen Jahr ihr international besetztes Food-Symposium "Terroir" zum ersten Mal in Berlin veranstaltet. Dort traf man den DJ Richie Hawtin, der mit seinem eigenen Label schon länger nebenbei Sake vertreibt. Berliner Protagonisten kochten, aßen und diskutierten mit Matt Orlando, Küchenchef im Kopenhagener "Amass" und der Gemüseköchin Amanda Cohen vom New Yorker Restaurant "Dirt Candy". Und man begriff offenbar, dass die Diversität von Berlin und von Deutschland eine Chance ist. 

Die Neue Deutsche Küche bedeutet Vielfalt

B-EAT ist das neue Food-Magazin für Gerneesser und Gastronomiefans, für Restaurantoftbesucher, für Ernährungsinteressierte und Foodfreaks, für Wein-, Champagner und Bierenthusiasten. B-EAT will die neue deutsche Küche - the New German Cuisine - journalistisch begleiten.
B-EAT ist das neue Food-Magazin für Gerneesser und Gastronomiefans, für Restaurantoftbesucher, für Ernährungsinteressierte und Foodfreaks, für Wein-, Champagner und Bierenthusiasten. B-EAT will die neue deutsche Küche - the New German Cuisine - journalistisch begleiten.

 "Deutschland war immer ein Einwanderungsland", sagt "Nobelhart & Schmutzig"-Inhaber Billy Wagner. "Heute ist das genauso, nur noch viel internationaler. Es ist wichtig, dass man die Vielfalt, die diese Menschen nach Deutschland bringen, nutzt und einbindet." Deshalb hat er sich der Tatsache besonnen, dass er in einer Stadt kocht, die die größte türkische Community außerhalb der Türkei beheimatet. Zu Beginn des Abends gibt es deshalb jetzt Ayran, das traditionelle türkische Joghurtgetränk, das man in Berlin sonst an der Dönerbude schlürft. Im "Nobelhart & Schmutzig" wird er mit Joghurt und Sahne vom Erdhof Seewalde zubereitet, der Berliner Restaurants eine bessere Welt der Milchprodukte eröffnet hat. 

In einem Berliner Sterne-Restaurant einen Super-Ayran zu servieren, darauf hätte man natürlich schon früher kommen können. Das kann man beklagen. Oder mit Genugtuung feststellen, dass sich kulinarisch etwas bewegt in Deutschland. Und das ist auch gut so.

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