Ganz in der Ecke des Flurs, dort, wo die Bomben keine Krater in die Wände geschlagen haben, liegt Wera Starostina, 85, auf dem Boden und versucht zu sterben. Es ist nicht lange her, da humpelte sie noch an Krücken nach draußen. Doch seit der Krieg nach Wuhlehirsk kam, in ihr Heimatdorf bei Donezk, schafft sie es nicht mehr vor die Tür. Vorsichtig legte ihr Sohn Nikolaj, 64, sie auf eine Matratze, möglichst weit weg von Fenstern und Türen.
Die Wohnung gehört den Nachbarn, die rechtzeitig fliehen konnten, wie viele andere. Die eigene liegt längst in Trümmern. Tagelang donnerten und zischten die Geschosse durch das Dorf, krachten in die kleinen Bauernhäuser, auf die Höfe und in die Gärten. Die Wände zitterten. "Wir haben auf dem Flur gelegen", sagt Nikolaj, "und auf unser Ende gewartet."
Wuhlehirsk, 7000 Einwohner, war im Frieden bitterarm, jetzt liegt es in Trümmern. Vor Nikolajs Haus steht mitten auf der Straße ein verkohlter Panzer, etwas weiter an der Hauptstraße knabbert ein Hund an einer Menschenhand. Bis vor Kurzem kämpften Ukrainer und prorussische Separatisten heftig um das Dorf, dann zogen die Ukrainer ab.
"Gib mir Gift, damit es vorbei ist"
Seit Mitte Februar konnten die Menschen zumindest auf einen Waffenstillstand hoffen. Schon eine Phase der Ruhe wäre ein Erfolg des mühsam ausgehandelten Abkommens von Minsk: Das erste Friedensabkommen zwischen Separatisten und der Ukraine, unterzeichnet am 5. September vergangenen Jahres, hielt nicht einmal Tage. Auch die Kämpfe um das Dorf Debalzewe unweit von Wuhlehirsk tobten jetzt nach dem Waffenstillstand unerbittlich weiter. Bereits am zweiten Tag klagten beide Seiten über Schüsse der anderen.
Auch Nikolaj wollte eigentlich weg. Doch dann konfiszierten die Separatisten sein Auto, und irgendwann war es zu spät. Jetzt sind die Läden ausgebrannt oder mit Brettern verrammelt. Das Schulgebäude hat kein einziges Fenster mehr. Von manchen Gebäuden sind nur Gerippe aus Steinen übrig. "Wir leben hier wie Gefangene", sagt er. "Wie in einer Höhle."
Die letzte Rente wurde im vergangenen Sommer ausgezahlt. Sogar das Geld, das Wera für ihre Beerdigung gespart hatte, ist ausgegeben. Wera hat Schmerzen, aber im Dorf gibt es keine Medizin mehr, keinen Arzt. Sie trägt mehrere Pullover übereinander, so kalt ist es in der Wohnung.
"Gib mir Gift", sagt sie, "damit es endlich vorbei ist." Wera hat die Welt früher besser verstanden. "Ich habe den Krieg gegen die Deutschen überlebt", sagt sie. "Ich verstehe jetzt gar nicht, wer da eigentlich kämpft. Und warum?"
Putin als strahlender Sieger
Der Separatistenführer Alexander Sachartschenko erklärte nach der Einigung auf die Waffenruhe, man wolle nun eigentlich noch Charkiw und Mariupol erobern. Kaum jemand in Donezk oder Kiew glaubt an dauerhaften Frieden. Denn in den Köpfen ist der Krieg noch lange nicht vorbei.
Einen strahlenden Sieger aber gibt es schon: Wladimir Putin hat sein größtes Ziel erreicht. Das Abkommen von Minsk räumt den Separatisten, Moskaus Statthaltern in den sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk, so viele Rechte ein, dass die Ukraine nie zur Nato oder zur Europäischen Union gehören wird. Der Kreml kann über die Vertreter aus der Ostukraine auch weiterhin die Politik in Kiew beeinflussen. Der Krieg, von Moskau zynisch angezettelt, hat sich für den Kreml jetzt schon gelohnt.
Die Alten können nicht weg
Für Wuhlehirsk war er eine Katastrophe. Selbst in die Hochhäuser am Dorfrand bohrten die Raketen schwarze Löcher. Im Bergwerk, dem einzigen Unternehmen am Ort, steht jetzt Wasser. Unter einer feinen Decke aus Schnee liegt ein toter ukrainischer Soldat. Keinen kümmert das.
Nur selten sind Menschen auf der Straße zu sehen, einige stopfen Habseligkeiten in ihre Autos. Eine Frau trägt einen Laib Brot nach Hause. "Das ist die Hölle!", schreit sie. Noch weiß niemand, wie viele Bewohner des Ortes im Raketenhagel starben. Manche wurden während der Angriffe einfach notdürftig in den Höfen verscharrt.
Die Bäuerin Larissa Borissenko sah, wie eine Granate ihren Mann traf, er hatte es nicht mehr rechtzeitig ins Haus geschafft. Die Druckwelle schlug den Kopf von seinen Schultern. Granatsplitter bohrten sich in ihren Rücken, und so blieb sie Stunden neben dem Toten liegen und spürte, wie ihr Blut aus dem Körper rann. Über dem Haus donnerte die Artillerie. Die Kinder hockten im Keller. Larissa, 38, liegt heute im Krankenhaus von Horliwka. "Ich habe das Gefühl, dass mein Leben schon zu Ende ist", sagt sie.
Eine Million Menschen flüchtete
Den Konflikt im Donbass mussten die Russen nicht erfinden. Von jeher fühlen sich die Menschen dort Russland nahe, sehnen sich nach den alten Zeiten, als die Kohlegruben der Region noch zum Stolz der Sowjetunion gehörten. Bis heute hält sich der Mythos, die Gruben hätten das ganze Land ernährt. Ausgenutzt fühlten sich deshalb die Menschen. In Wirklichkeit schickte Kiew stets Subventionen. Der Westen des Landes blieb den Menschen im Donbass aber völlig fremd.
Dennoch hätten sich die Bewohner der rückständigen Bergarbeitersiedlungen niemals aus eigenem Antrieb gegen die proeuropäische Regierung zum Kampf erhoben. Ohne Propaganda, Waffen, Geld und Fachpersonal aus Russland würde es keinen Krieg geben. Dabei hatte es Putin nicht einmal auf die abtrünnigen Gebiete abgesehen. Eher darauf, das Nachbarland Ukraine nach der Majdan-Revolution völlig zu zerrütten, es in einen gescheiterten Staat zu verwandeln.
Der Krieg hat ganze Dörfer und Stadtviertel im Donbass zerstört, mindestens eine Million Menschen flüchtete, offiziell starben mindestens 5000 Zivilisten – in Wirklichkeit dürften es deutlich mehr sein. In Donezk ist das zentrale Leichenhaus so überfüllt, dass vor der Tür zwei Kühlwagen im Einsatz sind. Zehntausende verarmten, weil keine Löhne und Renten mehr ausgezahlt werden. In mindestens 60 Dörfern gibt es keinen einzigen Arzt mehr. Überall wuchert der Hass.
Trümmerwüste aus einem Weltuntergangsfilm
Donezk, Zentrum des Kohlebeckens Donbass, war nie eine schöne Stadt, und doch hatte sie sich in den vergangenen Jahren gewandelt, besonders durch die Fußball-Europameisterschaft 2012. Fünf Spiele wurden in der neuen Donbass-Arena ausgetragen, dem Heimstadion von Schachtar Donezk. 400 Millionen Euro kostete damals der Ausbau des Flughafens, eines der modernsten Gebäude der Ukraine. Jetzt ist er das Symbol für den verlorenen Krieg. Nach 242 Tagen blutiger Verteidigung zogen die letzten ukrainischen Kämpfer ab. Das einstige Prestigeprojekt liegt da wie eine Trümmerwüste aus einem Weltuntergangsfilm.
Ganz in der Nähe fährt Natalja Tschedogajewa, eine resolute Dame mit blond gefärbten Haaren, jeden Morgen zur Arbeit. Lebensgefährlich war das noch am vergangenen Samstag. Der Oktober-Bezirk von Donezk gilt offiziell als Kriegsgebiet, nur Anwohner und Soldaten haben Zutritt. Natalja ist Chefärztin im Krankenhaus Nummer 21, einer zerschossenen Ruine, in der noch immer Patienten liegen, obwohl es keine Heizung, kein Wasser und in vielen Zimmern nicht einmal Fensterglas gibt.
Wie in allen Krankenhäusern in den selbst ernannten Volksrepubliken fehlen Medikamente, nicht mal Verbandszeug und Schmerzmittel liegen ausreichend in den Schränken. Die Ärzte und Schwestern erhalten seit Monaten kein Gehalt, nur manchmal kommt jemand aus dem Gesundheitsministerium der sogenannten Donezker Volksrepublik vorbei und verteilt ein wenig Bargeld – eine Anzahlung auf den Lohn vergangener Monate. In den von Separatisten kontrollierten Gebieten funktionieren keine Banken, kein Geldautomat.
"Sie zielen auf Krankenhäuser!"
Tschedogajewa eilt im Wintermantel durch die kalten Gänge. 85 Patienten harren in den kalten Zimmern aus, meist alte Leute. Sie zeigt die Kinderabteilung: Hier schlug im Januar ein Geschoss ein und zerschmetterte das Treppenhaus. Damals waren noch Patienten da, Babys mit ihren Müttern. "Es ist ein Wunder, dass niemand verletzt wurde", sagt sie. Im kalten Operationssaal stapeln sich Sandsäcke vor den zerschossenen Fenstern. Auch hier landete eine Granate, während einer Operation. Am Tag vor der Waffenruhe schlug ein Geschoss unweit des Leichenhauses ein.
"Sie zielen auf Krankenhäuser!", ruft die Chefärztin. "Das ist doch Mittelalter! Barbarei! So liebt uns die Ukraine!" Monatelang habe sie erwartet, dass sich die Regierung in Kiew entschuldigt für die Angriffe. Man habe reden müssen, sagt sie. "Nie hätten die Politiker in Kiew gesagt, dass ihnen auch der Osten wichtig ist. Jetzt sind die Fronten verhärtet. Keiner will mehr in der Ukraine leben. Um keinen Preis."
Die Wirtschaft liegt am Boden
Die ukrainische Regierung hatte keine andere Wahl, als gegen die Separatisten vorzugehen, schon um die angrenzenden Gebiete zu schützen. Eine Chance hatte sie aber nicht. Russland versorgte die Rebellen nicht nur systematisch mit Nachschub. Spätestens seit Sommer kämpfen auch reguläre Truppen in der Ukraine. Dieser Tage waren bei Wuhlehirsk Dutzende Panzer und schwere Militärfahrzeuge zu sehen. Die Soldaten, die danebenstanden, stammten aus Burjatien, einer russischen Teilrepublik am Baikalsee.
Die ukrainischen Waffen hingegen sind völlig veraltet, die Kriegsführung ist chaotisch, die Truppe schlecht ausgebildet. Vielleicht ist das ein Grund, warum auch sie stets zivile Opfer in Kauf nahm, auf Wohnviertel schoss, nach Angaben von Menschenrechtlern sogar Streubomben einsetzte. Kein Bürgerkrieg sei das, sondern ein "Anti-Bürgerkrieg", folgerte die Moskauer Zeitschrift "New Times".
Warten im Schnee auf Nudeln und Zucker
Dabei ist nicht klar, ob wirklich nur die Ukraine auf Donezk zielte, wie die Führung der selbst ernannten Volksrepublik behauptet. Angeblich seien überall in der Stadt ukrainische Saboteure unterwegs. Russische Journalisten berichteten jedoch, dass hinter den angeblichen Agenten oft die Separatisten selbst steckten. Ihnen schlossen sich im vergangenen Sommer viele Kleinkriminelle an, als "Gewaltunternehmer", wie die Zeitschrift "Osteuropa" formulierte. Waffen zirkulieren überall in Donezk. Selbst die Separatisten empfehlen, nachts nicht mehr durch die Stadt zu fahren, weil die Männer an den Kontrollposten oft unbeherrscht reagieren.
Vor einer "humanitären Katastrophe" warnten die Vereinten Nationen schon vor Monaten. Nach der Unabhängigkeitserklärung der Volksrepubliken im Mai setzte Kiew später alle Zahlungen aus. Wenn die Lebensbedingungen nur schlecht genug sind, sowohl die Idee, würden sich die Menschen schon wieder in die Ukraine zurückwünschen. Doch die Wut wurde nur größer. Derzeit lebt die Donezker Volksrepublik zum großen Teil von Hilfslieferungen, die der lokale Oligarch Rinat Achmetow in riesigen Konvois aus Kiew bringen lässt.
Die Separatisten, so heißt es, schützen im Gegenzug das Eigentum des Multimilliardärs, der längst ins sichere Kiew geflüchtet ist. Jeder zehnte Bewohner der Republik erhält alle vier Wochen Lebensmittelpakete, vor allem Rentner, aber auch Kinder, Schwangere, Behinderte. Manche warten im Schnee stundenlang auf Konserven, Nudeln, Zucker, Öl.
Kohleabbau wie vor 100 Jahren
Wo Wirtschaft funktioniert, wirkt sie wie aus der Zeit gefallen. Schlammige Feldwege führen hinter der Kleinstadt Sneschnoje zu den privaten Kohlegruben, Kopanki genannt. Von Weitem sehen die wie wackelige Scheunen aus, die schnell zusammengezimmert wurden. Im Innern der Hütten führt ein steiler Tunnel nach unten. Auf alten Eisentrögen rutschen die Arbeiter an Stahltrossen in den selbst gebauten Schacht – Kohleabbau wie vor 100 Jahren.
Unten hockt Andrej, der Bergmann, in einem engen Tunnel. Nicht einmal ein Kleinkind könnte hier stehen. Finster ist es, nur die Kopflampe flackert. Von oben tropft Wasser aus der Decke. Weiter hinten im Gang bricht ein Kumpel mit einem Bohrer die Kohle von den Wänden. "Wir probieren aus, wo wir weiterarbeiten können und wo nicht", sagt Andrej. Kein Ingenieur half bei der Planung. Stürzt die Decke ein, werden die Bergarbeiter lebendig begraben. Umgerechnet zehn Euro verdient Andrej während einer Acht-Stunden-Schicht in der Tiefe. Bis vor Kurzem waren die Schächte illegal, auch aus Sicherheitsgründen.
Um Steuern einzunehmen, legalisierten die Separatisten die selbst gegrabenen Kohleminen. Dabei liegt das Kohlebusiness genauso am Boden wie der Rest der Wirtschaft. Die meisten Unternehmen sind geschlossen, der Handel mit der Ukraine brach zusammen. Viele der offiziellen Bergwerke wurden während des Krieges beschädigt. Die selbst ernannten Volksrepubliken nehmen fast nichts ein. Als unabhängige Staaten sind sie nicht ansatzweise lebensfähig.
Andrej hätte gern eine andere Arbeit. "Hier gibt es aber nichts anderes", sagt er. Im vergangenen Sommer hat er für die Separatisten gekämpft. Die zahlten nicht. Außerdem war seine Einheit zehn Tage in einen Kessel geraten. Er hat immerhin überlebt. "Ich wünschte, der Krieg wäre vorbei", sagt er. "Aber er ist nicht mehr zu stoppen. Die Leute wollen sich der Ukraine nicht unterwerfen."
Immer wieder Wut und Trauer
An einem grauen Sonntag, eine Woche vor dem Waffenstillstand, rumpelt ein rostiger Kleinbus über die Feldwege hinab auf den Friedhof im Donezker Bezirk Textilschtschiki. An einer Grube hält er an. Von Weitem sind Raketeneinschläge zu hören, aber niemand achtet darauf. Männer tragen einen Sarg aus dem Auto, der fast leer ist. Von der 19-jährigen Walerija Parchomenko blieben nur Fetzen übrig. Ihre Mutter schreit. Walerijas Freund Jewgenij wirft sich zitternd auf den Sarg.
Walerija, eine Friseurin aus Donezk, starb am helllichten Tag. Zuvor hatte sie beim Gynäkologen erfahren, dass sie schwanger ist. Bevor die Granate einschlug, schaffte sie es noch, ihre Mutter anzurufen. Sie wollte das Kind unbedingt. Der Krieg, sagte sie, werde ja nicht ewig dauern. Einen Tag lang fehlte jede Spur von ihr.
"Wir haben alle Krankenhäuser und Leichenhäuser nach ihr abgesucht", erzählt ihre Mutter Jelena. Am Bordstein vor der gynäkologischen Praxis fand dann jemand ein Stück Schädel mit Haaren. Eigenhändig sammelte Jelena schließlich Knochen, einen Fetzen Jacke, ein Stückchen Jeans auf, die Überreste ihres einzigen Kindes. Sie wollte eigentlich nicht mehr weiterleben. Doch dann überlegte sie es sich anders. "Ich werde jetzt selbst ein Gewehr nehmen", sagt sie, "und gegen die Ukraine kämpfen."