Krieg in der Ukraine Unsanftes Erwachen – plötzlich liefert der Westen Waffen großer Reichweite, was steckt hinter dem Sinneswandel?

Russische Truppen treiben die Ukrainer aus der Stadt Severodonetsk heraus.
Russische Truppen treiben die Ukrainer aus der Stadt Severodonetsk heraus.
© Alexander Reka/ / Picture Alliance
Aus der Traum, die Sanktionen bezwingen Putin nicht. Der Ukraine-Krieg kann aber zu einer weltweiten Hunger- und Finanzkrise führen. Die neuen Drohnen und Raketenwerfer sollen Putin an den Verhandlungstisch bomben.

Vor etwa 100 Tagen hat Russland die Ukraine überfallen. Der Westen war schnell bereit, Kiew militärisch zu helfen. Mit kleinen, aber smarten Waffen. Tragbare Panzerabwehrraketen und schultergestützte Manpads sollten Putins Truppen aufhalten. Hier war man sich im Westen einig, darüber hinaus herrschten Chaos und Einzelgänge. Manche Länder lieferten gepanzerte Transporter, andere beharrten, die NATO wolle angeblich keine Schützenpanzer schicken. Dazu packte Kiew Systeme auf den Wunschzettel, die es so in der gewünschten Zahl gar nicht gab oder für die man kaum Munition bekommen konnte.

Der Westen rüstet für die Ukraine

Doch seit etwa 14 Tagen geht es Schlag auf Schlag, eine Ankündigung der Lieferung schwerer Waffen übertrifft die andere. Und das bislang so zurückhaltende Berlin steht in der ersten Linie, seitdem Bundeskanzler Scholz die Lieferung eines hochmodernen Luftabwehrsystems und die Bereitstellung von Mars-Werfern ankündigte. Diese Welle entstand nicht aus Zufall. Ohne Frage wurde sie von der Führungsmacht USA orchestriert. Mit der Kampfdrohne Grey Eagle liefern die USA auch das entscheidende Einzelsystem, mit dessen Hilfe die weitreichenden Raketenwerfer Putins Donbass-Offensive stoppen sollen.

Diese Waffen hätten Kiew bereits vorher geholfen, dennoch bekam die Ukraine sie nicht. Woher kommt jetzt der Sinneswandel? Die böse Antwort: Der Westen wurde unsanft aus seinen Träumen geweckt.

So wie es läuft, gewinnt Putin

Der Gedankenfehler entstand nach den "Siegen" der Ukraine bei Kiew und Charkiw. Nach heftigen Verlusten zogen sich die Russen aus dem Norden der Ukraine zurück. Für Kiew war das politisch ein Riesenerfolg – militärisch aber nur ein halber Sieg. Russland brach die Operation ab, zog die Truppen zurück und ein paar Tage später rückten die ukrainischen Streitkräfte nach.

Im Westen war man zufrieden. Die russische Angriffswelle war gebrochen, im Donbass kam es zu den gewohnten Stellungskämpfen. In dem befestigten Gebiet arbeiteten sich die Russen nur unmerklich voran. Nun sollte die Gegenstrategie greifen. Die sah in etwa so aus: Die ukrainischen Soldaten müssen hinhaltenden Widerstand leisten und Russland in einen "ewigen" Abnutzungskrieg hineinziehen. Nach den Erfahrungen der ersten Kriegswochen ging man davon aus, dass die Russen weiterhin hohe Verluste erleiden würden, während sich die der Ukraine in Maßen halten würden. Die eigentliche Entscheidung sollte nicht auf dem Schlachtfeld gesucht werden. Nie da gewesenen Sanktionen sollten Russland in die Knie zwingen und die Staatsfinanzen und die Industrie aus den Angeln heben.

Zu optimistische Einschätzung

Nun, Anfang Juni, zeigt sich, dass beide Annahmen falsch waren. Weder der Krieg der Sanktionen noch der des Militärs verliefen so wie geplant.

Zuerst das Militär: Russland konnte die Probleme mit seiner Armee zwar nicht aus der Welt schaffen, sie aber gewaltig eindämmen. General Alexander Dwornikow zeigte, dass er ein Feldherr ist, der "die Niederlage unter den Stiefel bekommt" und der es gewohnt war, mit Truppen zweifelhafter Güte zu arbeiten, wie der stern schon Anfang April warnte.

In den westlichen Staaten hat man das Wesen des Stellungskrieges im Donbass falsch eingeschätzt. Es zeigte sich, dass die Kiewer Truppen von den permanenten Angriffen und dem dauernden Beschuss abgenutzt und mürbe gemacht werden. Unmittelbar droht die Gefahr, dass der Donbass und die dort eingesetzten Truppen verloren gehen. Das heißt: Die Chance, Russland militärisch in einer Pattsituation zu fixieren, schwindet. Damit fehlt die Zeit, die die Sanktionen brauchen, um ihre Wirkung zu erzeugen.

Putin schwimmt im Geld 

Das wäre schon schlimm genug. Doch inzwischen mehren sich die Zeichen, dass die Sanktionen bzw. der gegenseitige Handelskrieg nicht so laufen, wie erwünscht. Dabei zeigen die Sanktionen Wirkung. Man nimmt an, dass Russlands Wirtschaft in diesem Jahr um mehr als 8 Prozent einbrechen wird. Das ist eine ausgewachsene Rezession oder auch Wirtschaftskrise – vor allem dann, wenn diese Entwicklung in den nächsten Jahren anhält.

Es zeigt sich aber leider auch, dass die "kleine" Wirtschaftsmacht Russland gewaltigen Schaden in der Weltwirtschaft anrichten kann. Und das macht Putin derzeit. Im Handelskrieg besitzt Putin zwei Ansatzpunkte. Der eine ist Russlands Einfluss auf die Märkte von fossilen Energien. Diese Option wirkt bereits. Der andere Hebel zielt auf die Märkte von Grundnahrungsmitteln. Hier haben sowohl Russland wie auch die Ukraine jeweils einen hohen Anteil am Welthandel. Bei Getreide und Pflanzenöl zeigen sich die ersten Schockwellen in Form von Lieferengpässen und Preissteigerungen. Die eigentliche Wirkung wird sich jedoch im Herbst nach der Ernte entfalten.

Preissteigerungen bei Öl und eine geschickte Währungspolitik führen dazu, dass der Rubel trotz aller Sanktionen extrem stark ist und Russland einen sehr hohen Leistungsüberschuss erzielt. In den ersten vier Monaten 2022 konnte Putin 96 Milliarden Dollar netto verbuchen, mehr als das Dreifache gegenüber 2021. Alle Boykottandrohungen der EU können nichts daran ändern, dass Putin derzeit und auch nach einem Boykott mehr Gewinn erlöst als jemals zuvor – dank der hohen Preise.

Geld löst viele Probleme

Diese gefüllten Kassen werden Moskau helfen, die Sanktionen zu überstehen. Russland hat Zeit, neue Abnehmer für Gas und Öl zu suchen und neue Transportwege zu erschließen. Schon jetzt wurden die Energieexporte nach China um mehr als 50 Prozent gesteigert. Nebeneffekt des Geldsegens ist, dass Putin eine unpopuläre Mobilmachung vermeiden kann. Anstatt billig Wehrpflichtige und Reservisten einzuberufen, werden verlockende Löhne fürs Kämpfen gezahlt. Zusammen mit den Entlassungen wegen der Wirtschaftskrise dürften sich in dem vergleichsweise armen Russland so genügend "Freiwillige" für die patriotische Mission finden lassen. Die Bevölkerung in Russland – nur informiert durch die Staatsmedien – trägt den Kriegskurs. Die gefüllten Kassen können auch dazu führen, dass Russland die Lücken in der Versorgung mit Bauteilen, Industrieanlagen und Chips zumindest teilweise wird stopfen können.

Nach Corona kommt die Putin-Rezession

Gleichzeitig stolpert der Westen in eine Wirtschaftskrise hinein. Die Inflationsraten liegen zwischen 8 und 9 Prozent. Sollte die Ernte aus der Ukraine blockiert werden, wird dieser Wert weiter steigen. Das Wirtschaftswachstum wird sich verlangsamen. Das heißt, die EU wird viel länger brauchen, um sich aus dem Corona-Keller herauszuarbeiten. Putin kalkuliert, dass die Leidensfähigkeit der russischen Bevölkerung größer ist als die der Menschen in Westeuropa, denen nach Währungs- und Coronakrisen nun eine Putin-Rezession bevorsteht.

Hunger und Schulden - eine explosive Mischung

Weit explosiver stellt sich die Lage in den armen Ländern der Welt dar. Solange sie nicht gerade Energie-Exporteure sind, werden die Preissteigerungen von Energie und Nahrungsmitteln sie mit voller Wucht treffen. Parallel steigen auch noch die Zinsen, die diese hoch verschuldeten Länder zahlen müssen. Wenn die Menschen nichts mehr zu essen haben, wird die Lage unkontrollierbar. Der Arabische Frühling hatte viele Ursachen, doch der unmittelbare Zündfunke waren steigende Getreidepreise. Damals wurden sie von einem Exportverbot in Russland ausgelöst, mit dem Moskau eigentlich nur auf eine schlechte Ernte reagierte.

Die drohende Hungersnot kann die nächste Finanzkrise auslösen. Vor die Wahl gestellt, ob sie Lebensmittel und Treibstoff bezahlen können, oder ob sie ihre Schulden begleichen, werden viele Länder den Schuldendienst hintenanstellen. Sri Lanka wurde bereits zahlungsunfähig und es wird nicht das letzte Land sein. Die ganze Welt schlittert in eine Wirtschaftskrise, wie es sie in dieser Form noch nie geben hat. Nicht wegen der Dimension, doch dieses Mal ist ein Player am Tisch, der diese Krise nicht besiegen oder gar dämpfen will, sondern sie mit allen Mitteln schüren wird. Aus dem Chaos will Russland politisch Kapital schlagen. Indem es Staaten in Not großzügige Rabatte anbietet, dass aber nur bei gutwilligen Staaten, die sich nicht den westlichen Sanktionen anschließen. Das passiert bereits, Putins Freund Assad soll bereits Getreide aus der Ukraine bekommen.

Dem Westen läuft die Zeit davon

Das Szenario "Putins Weltwirtschaftskrise" muss nicht geschehen, doch es ist eine reale Möglichkeit. Daher wird nun die Militärhilfe für Kiew massiv verstärkt. Ukrainische Siege auf dem Schlachtfeld sollen Putin an den Verhandlungstisch zwingen. Ob das gelingt? Die angekündigten Waffen sind substanziell und können das Blatt wenden. Putin kann nicht hoffen, diesen stetigen Zustrom aus der Rüstungsindustrie des Westens allein an der Front zu bekämpfen. Der Kreml muss sich also etwas jenseits der bekannten Atomrhetorik einfallen lassen. Es fragt sich nur, was das sein wird.