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Supreme-Court-Entscheidung Erst Waffengesetze, jetzt Abtreibungsrecht: Die obersten Richter kappen die letzten Bande, die die USA noch zusammenhalten

Der Oberste Gerichtshof der USA in seiner aktuellen Besetzung
Gruppenfoto im Tempel: Der Oberste Gerichtshof der USA in seiner aktuellen Besetzung
© Erin Schaff/Shutterstock
In den USA gibt es kein Recht auf Abtreibung mehr. So will es der Supreme Court. Mit ihrem Verfassungsverständnis urteilen die Richter an der Mehrheit vorbei und könnten zudem die Errungenschaften ganzer Jahrhunderte abwickeln. Eine düstere Prognose.

Der 23. November 2028, ein Donnerstag, ist ein klarer aber viel zu kalter Tag für diese Jahreszeit in Washington DC. Die Temperaturen liegen knapp über dem Gefrierpunkt und passen perfekt zur Stimmung in der Hauptstadt, in der an diesem Tag eine 250-jährige Geschichte zu Ende geht. Eigentlich sollte die Stadt Washington zusammen mit Puerto Rico und den Pacificstaaten zu den Bundesstaaten 51, 52 und 53 erklärt werden. Doch statt zu wachsen, fallen die Vereinigten Staaten in sich zusammen.

Kalifornien spaltet sich ab, Texas will auch weg

Kalifornien hatte sich bereits anderthalb Wochen zuvor für unabhängig erklärt, weil es das Ergebnis der vorangegangen Präsidentschaftswahl nicht anerkennen wollte. Auch deswegen überlegt Oregon, sich mit Kalifornien zu vereinigen. Die Bundesstaaten Alaska, Michigan und Maine bitten die Regierung in Ottawa, in Kanada aufgenommen zu werden. An diesem Donnerstag spaltet sich nun auch New York mit seinen 20 Millionen Einwohnern ab. Im Süden verhandelt Texas mit Oklahoma und Louisiana über eine Fusion sowie dem anschließendem Austritt aus den Vereinigten Staaten. Ihnen ist die Bundesregierung immer noch zu liberal, auch sie hatten den Wahlausgang vier Jahre zuvor nur mit großen Schmerzen akzeptiert.

Das einst wirtschaftlich wie kulturell mächtigste Land der Welt implodiert. Immerhin: Die Gewalt der vergangenen Jahre hat sich gelegt.

Es war ausgerechnet der Oberste Gerichtshof, der dem zerrütteten Land den Todesstoß verpasste. Genauer gesagt waren es mehrere Todesstöße. Die Erlaubnis von aufwieglerischen Reden von 1969 war einer. Oder als im Jahr 2000 Nachzählungen von Präsidentschaftswahlen für teilweise verfassungswidrig erklärt wurden. 2022: Grundsätzliches Recht zum Tragen von Schusswaffen in der Öffentlichkeit. 2022: Kein grundsätzliches Recht auf Abtreibung. 2024: Wahlkreisverschiebungen sind legal, selbst wenn sie die Siegeschancen einer Partei verringern. 2024: Bundesstaaten dürfen eigenmächtig Wahlen anerkennen oder ablehnen. 2026: Empfängnisverhütung ist verfassungswidrig. 2028: Briefwahlen können untersagt werden.

Verfassungsgerichtsurteile mit Sprengkraft

Jeder einzelne dieser Entscheidungen mag zu ihrer Zeit und unter den jeweiligen (juristischen) Umständen gerechtfertigt gewesen sein. In ihrer Gesamtheit aber höhlten sie das mühevoll zusammen gehaltene Gemeinwesen der Vereinigten Staaten aus. Nicht nur, weil Urteile wie zum Waffenrecht oder über Abtreibungen Minderheitenmeinungen waren, die keinen Rückhalt in der Bevölkerung hatten. Der mehrheitlich konservativ bis rechts besetzte Supreme Court hatte außerdem die Rolle der Bundesstaaten deutlich gestärkt, Folge: Ob Bürgern elementare Rechte gewährt werden oder nicht, hängt schlicht vom Wohnort ab. Will eine Frau in Alabama abtreiben, hat sie Pech gehabt. Passt einer Regierungschefin oder einem Regierungschef in Vermont ein Wahlergebnis nicht, wird dem der Segen verweigert.

Dieses Szenario ist natürlich (in weiten Teilen) ausgedacht, dennoch haben die bisherigen und möglichen künftigen Urteile der US-Verfassungshüter enorme Sprengkraft. Wir verlassen nun das fiktionale Szenario und blicken auf die aktuellen Themen, und wie der oberste Gerichtshof dabei ist, die USA ins Recht des 18. Jahrhunderts zurückzubewegen. Beispiel Waffengesetze: Mit ihrer konservativen Mehrheit haben die obersten Richter die Waffengesetze nun noch einmal liberalisiert – ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo sich die notorisch uneinige Politik erstmals seit vielen Jahren auf eine leichte Verschärfung verständigen konnte. Kritiker befürchten nun, dass durch die Supreme-Court-Entscheidung deutlich mehr Menschen eine Erlaubnis zum Tragen von Waffen in der Öffentlichkeit beantragen, und dass in anderen Bundesstaaten ähnliche Regelungen gekippt werden.

Die meisten Amerikaner haben keine Waffe

Dabei sind die Amerikaner mehrheitlich gar nicht die großen Waffennarren als die sie gelten. So besitzt rund zwei Drittel der Bevölkerung weder Gewehr noch Pistole, knapp die Hälfte will eine Verschärfung der Gesetze, und fast 60 Prozent der Menschen sind besorgt, dass sie oder eine ihnen nahestehende Person in eine Schießerei verwickelt werden könnte. Auch wenn die genauen Zahlen in solchen Umfragen schwanken, ist die Tendenz seit Jahrzehnten eindeutig: Die Toleranz gegenüber Waffen geht kontinuierlich zurück. Das bedeutet aber auch, dass die Vorstellungen der Waffennarren zwar verfassungsgemäß sind, aber von der Mehrheit nicht mitgetragen werden.

Ähnlich ist die Situation bei dem Thema Abtreibung, über das der Supreme Court jetzt ebenfalls ein Grundsatzurteil gefällt hat. Darin kippen die Richter den bisherigen Präzedenzfall und damit auch das grundsätzliche Recht auf Schwangerschaftsabbrüche. Künftig können die einzelnen Bundesstaaten selbst entschieden, ob Abtreibungen legal bleiben und wenn, unter welchen Umständen. Extrem harsche Regelungen wie sie es jetzt schon in Texas oder Oklahoma gibt, bleiben bestehen. Abbruchwillige Frauen sind also gezwungen, in andere Bundesstaaten zu gehen oder sich illegal arbeitenden Ärzten anzuvertrauen.

Bei diesem Thema sind die Amerikaner:innen sogar noch einiger als bei Waffen. Zumindest über die Parteigrenzen hinweg. So befürworten mehr als 80 Prozent der Amerikaner ein grundsätzliches Recht auf Abtreibung, rund ein Drittel sogar unter allen Umständen. Konservative Wähler und Wählerinnen allerdings sind deutlich skeptischer: Unter den Anhängern der Republikaner ist es gerade einmal ein Viertel, das vorbehaltlos Schwangerschaftsabbrüche unterstützt. Dennoch: Das jüngste Urteil des Supreme Courts wird mutmaßlich nur den Applaus eines eher kleinen Teils des Landes ernten.

Verfassung im Sinne der Verfassungsväter

Den obersten Richter des Landes dürfte der Beifall des Volkes eher schnuppe sein, denn ihre Aufgabe ist es, die Verfassung zu interpretieren und zu wahren. Dass sie dabei beinahe reaktionäre Positionen einnehmen, ist kein Zufall. Es war vor allem Ex-Präsident Donald Trump, der drei freie Posten besetzt hat, und nur erzkonservative Juristen an den Supreme Court holte. Einige der Verfassungsrichter zählen sich zu den sogenannten "Originalisten". Diese Rechtsschule legt die Verfassung so aus, wie sie zur Zeit der Entstehung gemeint oder überhaupt möglich war. Vereinfacht gesagt bedeutet das: Ende des 18. Jahrhunderts waren Waffen sowohl existent als auch erwünscht, also gilt das auch jetzt noch, 250 Jahre später.

Abtreibung existierte damals zwar (in finsteren Hinterzimmern), wurde aber von den Verfassungsvätern weder erwähnt und vermutlich noch weniger gewünscht. Also gibt es kein verbrieftes Recht darauf – ganz gleich, was sich in den vergangenen Jahrhunderten getan hat. Was dieses Vorgehen für künftige Urteile bedeutet, lässt sich an einer Hand ausrechnen. Empfängnisverhütung und künstliche Befruchtungen dürften ebenfalls kaum den Segen der Supreme-Court-Richter bekommen. Bei komplizierten Themen wie dem Wahlrecht, etwa das Recht auf Briefwahl, könnten ebenfalls rückwärtsgewandte Entscheidungen fallen. Wenn es hart auf hart kommt, wickeln die auf Lebenszeit gewählten Richter möglicherweise die Errungenschaften ganzer Jahrhunderte ab. Dieses Gericht hat das Zeug, die letzten Seile, die die US-Gesellschaft zusammenhält, auch noch zu kappen.

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