Norwegens Grenze zu Russland: Junge Menschen sitzen in den Wachtürmen und halten Ausschau. Verteidigungsminister Boris Pistorius wiederum beobachtet die Wehrdienstleistenden. Toll finde er das, dass die jungen Leute da sitzen, so ganz ohne Handy, wird er später begeistert zu Journalisten sagen. Bei seiner Reise durch Skandinavien Anfang März sprach Pistorius mit Amtskollegen und traf Bundeswehrtruppen bei der Nato-Übung Nordic Response 2024, wo diese sich zusammen mit verbündeten Streitkräften auf ein Angriffsszenario vorbereiten.
Die jungen norwegischen Turmwächter in der Grenzstadt Kirkenes hätten ihn dabei sehr beeindruckt, sagte Pistorius mehrmals. Drei Wochen ohne Handy, eisige Temperaturen, im Freien übernachten. Und das alles auf eigenen Wunsch. Zwar besteht in Norwegen eine Wehrpflicht. Doch auf die spezielle Wachposition an der russischen Grenze müssen sich besonders geeignete Wehrdienstleistende bewerben.
Eine kriegstüchtige Jugend – wird es die demnächst auch in Deutschland geben?

Eine knappe Mehrheit der Deutschen – 52 Prozent – befürworten laut einer Stern-Forsa-Umfrage einen verpflichtenden Dienst bei der Bundeswehr. Nicht erst seit seiner Reise durch Schweden, Norwegen und Finnland heizt Pistorius die Debatte darum an, ob Deutschland zurückkehren soll zur aktiven Wehrpflicht. Noch im April will der Verteidigungsminister seine Ideen dazu vorstellen.
In Europa haben derzeit zehn Länder eine aktive Wehrpflicht: Estland, Litauen, Norwegen, Österreich, die Schweiz, Griechenland, die Türkei, Zypern, Dänemark und Schweden. Pistorius bezeichnet das schwedische Modell als "besonders geeignet".
Schwedens Wehrpflicht als Vorbild für Deutschland?
In Schweden bekommt jede und jeder zum 18. Geburtstag einen Brief von der Musterungsbehörde. Seit die Wehrpflicht 2017 wieder eingesetzt wurde, gilt sie gleichermaßen für Männer und Frauen. Die jungen Menschen müssen einen Online-Fragebogen ausfüllen: über ihren Bildungsstand, Gesundheit und ihre Motivation. Anhand der Angaben entscheidet sich, wer zur Musterung eingeladen wird. Das ist nur etwa jeder Dritte.
Zwei Tage lang durchlaufen die jungen Männer und Frauen anschließend Interviews und Tests – körperliche Fitness und psychische Gesundheit spielen eine Rolle. Am Ende werden nur 8000 eines Jahrgangs (von ca. 100.000 anfänglich Kontaktierten) in die einjährige Ausbildung berufen. Etwa 21 Prozent davon sind Frauen. Nach ihrer Grundausbildung sind die Rekrutinnen und Rekruten verpflichtet, ihre Einheit zu unterstützen, wenn die Regierung sie dazu aufruft, etwa im Krisenfall. Schweden geht davon aus, dass dadurch der Personalbedarf der Armee für die Verteidigung gedeckt ist.
Bei seiner Reise durch Skandinavien wollte Pistorius auch prüfen, ob sich das schwedische Modell auf Deutschland übertragen ließe, und stellte in Bezug auf die viel größere deutsche Bevölkerung fest: Bei zehn Prozent eines Jahrgangs wären das in Deutschland allein 40.000 Männer im Jahr. Die Frauen, die in Schweden ebenfalls gemustert werden, noch gar nicht eingerechnet. "Das macht schon deutlich, dass das nicht eins zu eins übertragen werden könnte."
Aktuell hat die Bundeswehr gar nicht genügend Ausbilder und Kasernen für eine so große Anzahl an Wehrdienstleistenden. Und damit Frauen als Wehrpflichtige eingezogen werden könnten, müsste erst einmal das Grundgesetz geändert werden. Trotzdem kann Schweden als Vorbild dienen. Der Leiter des Zentrums für Sicherheit und Verteidigung der Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, Christian Mölling, sagt im stern, es sei auch für Deutschland sinnvoll wie beim schwedischen Modell alle erst einmal mustern zu lassen: "Lisa Müller ist körperlich so fit, die können wir innerhalb von zwei Jahren zur Pilotin ausbilden. Und ihr Bruder Hans Müller hat kaputte Knie, den brauchen wir gar nicht einberufen. Diese Vorbereitung brauchen wir dringend in Deutschland."
Sinnvoll seien deshalb verbreitete Meldestellen für die Bundeswehr, bei denen man sich erfassen lassen kann. "Es gibt ja auch Menschen, die gerne freiwillig kommen. Diese Infrastruktur muss Deutschland so schnell wie möglich aufbauen." Die Kreiswehrersatzämter, die jahrzehntelang für die Auswahl der Wehrdienstleistenden zuständig waren, gibt es nicht mehr. Infrastruktur wie diese müsste nach dem Aussetzen der Wehrpflicht in Deutschland 2011 erst wieder aufgebaut werden.

Mölling zufolge müsse das so schnell wie möglich geschehen. "Wenn wir die Bedrohungslage in Europa anschauen, dann muss man sagen: Die Zeit rennt uns davon. Wir müssen die Armee und Bevölkerung in Deutschland schnell auf einen möglichen Krisenfall vorbereiten."
Schweden reaktivierte die Wehrpflicht 2017 auch wegen Russlands Annexion der Krim wenige Jahre zuvor. Seit dem großflächigen Krieg gegen die Ukraine bereiten sich auch andere Länder auf einen möglichen Angriff Russlands vor.
Dänemark will Frauen einziehen
Die dänischen Streitkräfte wollen erstmals in ihrer Geschichte Frauen zum Militärdienst einziehen. Das Land strukturiert seine Armee gerade um, auch wegen der zunehmenden Bedrohung durch Russland. "Wir rüsten nicht auf, weil wir Krieg wollen. Wir rüsten auf, weil wir ihn vermeiden wollen", sagte die Premierministerin Mette Frederiksen in ihrer Ankündigung. Die Regierung wolle die "volle Gleichberechtigung der Geschlechter" und die Wehrdienstzeit von vier auf elf Monate verlängern. Nach den Plänen des Verteidigungsministeriums sollen ab 2026 jedes Jahr 5000 Wehrpflichtige einberufen werden. Das Vorhaben der Regierung ist noch nicht rechtskräftig. Wehrpflichtige sollen nur dann einberufen werden, wenn sich nicht genug Freiwillige melden.
Sollte in Deutschland die aktive Wehrpflicht wieder eingesetzt werden, würde die wohl auch erstmals für Frauen gelten. Wehrexperte Christian Mölling: "Eine heutige Wehrpflicht in Deutschland könnte man nicht mehr ohne Frauen machen – aus Gerechtigkeitsaspekten, aber auch, weil man auf die Fähigkeiten der weiblichen Bevölkerung nicht mehr verzichten will."
Experten sind allerdings auch der Meinung, dass die Wehrpflicht allein keine Wunderwaffe ist, die alle Probleme bei der Landesverteidigung löst. Mölling sagt, in einem Krieg brauche man drei Kreise: eine aktive Armee. Eine Reserve, die die aktive Armee wieder auffüllen kann, wenn sie stirbt. Und eine Bevölkerung, die das Ganze mitträgt – die die Rolle der Armee versteht, die verteidigt werden will und die dazu auch aktiv beiträgt. Menschen also, die zwar nicht Teil der Armee sind, sich aber trotzdem auf einen möglichen Krisenfall einstellen.
Schützenunion in Litauen – zivile Verteidigung als Massenphänomen
Vor allem in den baltischen Staaten, die in direkter Nachbarschaft zu Russland stehen, bereiten sich die Menschen vor. Seit 20 Jahren sind Estland, Lettland und Litauen schon EU- und Nato-Mitglieder. Die Erfahrungen aus Zeiten der Sowjetherrschaft sind bei vielen Bewohnern noch tief verwurzelt. Aus Sorge vor einem Angriff Russlands bereiten sich Zivilisten deshalb teils eigenhändig vor. So üben Freiwillige in der Litauischen Schützenunion – einer paramilitärischen Organisation – im Wald zu navigieren und mit Waffen umzugehen. An Wochenenden, in ihrer Freizeit. Wie gibt man seiner Gruppe Bescheid, wenn man feindliche Soldaten sieht? Was tut man bei einem Rückzug, wenn die Situation zu brenzlig wird? Wie tarnt man sich, wie schießt man? Studierende, Mütter, Väter, aber auch Jugendliche, die ein Drittel der Teilnehmer ausmachen – sie alle wollen wissen, was zu tun ist, wenn es zu einer russischen Invasion kommen sollte.
Die Schützenunion ist neben der litauischen Armee und dem Freiwilligenverband Savanorių pajėgos – der Nationalgarde Litauens – fester Bestandteil der litauischen Verteidigungsstrategie. Im Verteidigungsfall sind die Mitglieder der Union dem Militär unterstellt. Im Kriegsfall sind sie vor allem dafür verantwortlich, die Infrastruktur aufrechtzuerhalten und die Bevölkerung zu versorgen. 14.000 Mitglieder hat der Verein, nicht viel kleiner als Litauens Armee. Die Regierung steckt inzwischen fünfmal so viel Geld in die Schützenunion wie vor Russlands Angriff auf die Ukraine, etwa für Waffen und Schutzkleidung. Ähnliche Organisationen gibt es in Lettland, Estland, Finnland und Polen.
Nationaldienst in Frankreich
Präsident Emmanuel Macron hat 2019 den "Universellen Nationaldienst" eingeführt. Einen Monat lang können junge Menschen von 16 bis 25 freiwillig ihrem Land dienen. Es wird darüber diskutiert, den Dienst zur Pflicht zu machen. Die jungen Menschen werden in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht. Sie tragen alle die gleichen weißen Polohemden und die gleichen dunkelblauen Hosen. Ihr Tag beginnt mit Fahnehissen und dem Singen der Nationalhymne, Handys bleiben tagsüber ausgeschaltet. Sport, Unterricht über Bürgerrechte, über Kultur und Geschichte des Landes, über die Werte Frankreichs gehören zum Tagesablauf. Die Jugendlichen helfen bei ökologischen oder sozialen Vereinen, der Feuerwehr, Polizei oder beim Militär mit. Außerdem belegen sie Erste-Hilfe-Kurse und lernen etwa Verhaltensregeln bei Terroranschlägen.
Die Bevölkerung insgesamt auf Krisen vorzubereiten – nicht nur durch das Militär – fordern Experten immer wieder. Sicherheitsexperte Mölling etwa sagt, die Bevölkerung könne man auch durch eine generelle Dienstpflicht auf Krisen einstellen. Etwa wenn man in einem Bauamt arbeite und zwölf Monate lerne, welche Brücken in der Region relevant seien und wie man diese wieder aufbaut. Oder mit Computerspezialisten, die lernten, was im Krisenfall ihre Aufgabe im Bereich der Cyberabwehr wäre. "Man muss kein Soldat sein, um sein Land zu unterstützen."