Nun lässt sich freilich darüber streiten, was Markus Söder eigentlich sagen will. Die einen sehen in seinen zahlreichen Wortmeldungen zu ebenso zahlreichen Themen eine Art Selbstvergewisserung, die anderen eine plumpe Selbstinszenierung. So oder so fällt der CSU-Chef, der im kommenden Jahr eine Landtagswahl in Bayern gewinnen will, in diesen Tagen mit engagierter Kritik an der Bundesregierung auf, die nicht selten in kernigen Schlagzeilen mündet.
Bei all der ausladenden Generalkritik, so demonstrativ sie auch sein mag, ist eine interessante Frage untergegangen, die der bayerische Ministerpräsident beim unermüdlichen Poltern gegen die Ampel aufgeworfen hat: "Wäre die Bundesregierung vorbereitet, wenn Wladimir Putin erklärt, dass die Instandsetzung von Nord Stream 1 länger dauert, und er anbietet, dafür Nord Stream 2 zu nutzen?"
So ließ sich Söder vor wenigen Tagen von der "Bild am Sonntag" zitieren. Als hätte er da etwas kommen sehen.
Gas sparen, Kohlekraftwerke hochfahren, neue Partner suchen: So reagieren Europäer auf die gedrosselten Gaslieferungen aus Russland

Es fließt wieder Gas durch die Pipeline Nord Stream 1, so viel ist seit diesem Donnerstagmorgen gewiss. Doch wie lange noch? Schon morgen könnte Russlands Präsident Wladimir Putin den Gashahn weiter zudrehen, die Liefermengen abermals drosseln, womöglich sogar ganz einstellen lassen. Das Gas mag zwar wieder fließen, doch die Krise bleibt – und damit das bange Bibbern vor dem nächsten Winter.
Dem Kremlchef dürfte das gefallen, Unberechenbarkeit ist seine effektivste Waffe. Doch offenkundig sieht der russische Präsident in der von ihm geschürten Gasknappheit in Europa auch die Chance, ein im Zuge der Sanktionen auf Eis gelegtes Projekt durchzudrücken: Nord Stream 2.
Ein verlockendes Angebot?
Die Pipeline ist seit 2021 fertig gebaut, allerdings nicht im Betrieb. Das Genehmigungsverfahren für die Leitung wurde von Deutschland im Zuge des russischen Angriffs auf die Ukraine ausgesetzt. Nun, wo jeder Kubikmeter Gas den Ausschlag darüber geben könnte, wie Deutschland durch den Winter kommt, versucht Putin die Inbetriebnahme des 10-Milliarden-Euro-Projekt als Lösung aller Probleme ins Spiel zu bringen.
Dabei wiederholt Moskau sein Narrativ, dass die Drosselung der Durchleitung durch Nord Stream 1 allein einer fehlenden Turbine geschuldet sei. Diese dürfte nun auf dem Weg nach Russland sein, Grund zum Aufatmen gibt es jedoch nicht, so will es Putin jedenfalls verstanden wissen.
Sollte Russland die reparierte Turbine nicht rechtzeitig zurückerhalten, drohe Ende Juli wegen der notwendigen Reparatur eines "weiteren Aggregats" die tägliche Durchlasskapazität der Pipeline noch weiter zu fallen, sagte der russische Präsident laut Nachrichtenagentur Tass. Und schob demnach hinterher: "Wir haben noch eine fertige Trasse – das ist Nord Stream 2. Die können wir in Betrieb nehmen."
Was Putin als verlockendes Angebot darzustellen versucht, wird von Politikern der Ampel-Parteien als "Showeinlage" und "Erpressungsversuch" kritisiert. "Das Thema Nord Stream 2 ist aus gutem Grund erledigt – und dieser Grund sitzt im Kreml", sagte FDP-Fraktionsvize Lukas Köhler. "Mehr gibt es zu Putins neuerlicher Showeinlage gar nicht zu sagen." Für Nina Scheer, energiepolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Bundestag, stelle sich die Frage "insofern nicht, als dass aus europäischer Sicht mit Rückführung der Turbine keine technischen Gründe gegen die Nutzung von Nord Stream 1 sprechen."
"Offenbar will er die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 erpressen"
Die fragwürdige Offerte passt zur Strategie des Kreml. Russlands Präsident Wladimir Putin zählt das Schüren von Ängsten zu seinem Waffenarsenal, versucht mit dem Wecken von Begehrlichkeiten (ob bei Lebensmitteln oder Energie) und Drohgebärden (vor einem Atomkrieg) die Entschlossenheit der Länder zu unterminieren, die der Ukraine im Kampf gegen Russland zur Seite stehen, und ihre Prioritäten zu verschieben. Mit erstem Erfolg: Deutschland läuft es kalt den Rücken herunter, die Sorgen vor steigenden (Energie-)Preisen nehmen immer mehr Raum ein. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock warnte am Donnerstag vor womöglich verheerenden innenpolitischen Auswirkungen, sollte das Gas aus Russland ausbleiben.
"Offenbar will er die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 erpressen", sagte vor diesem Hintergrund die Energieökonomin Claudia Kemfert zum Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). "Dass der Kremlchef Putin nun Nord Stream 2 ins Gespräch bringt, zeigt, dass es bei Nord Stream 1 niemals um technische Gründe, sondern um reine politische Gründe ging", so die Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Sie warnt vor einer Inbetriebnahme, würde sie die Abhängigkeit von Russland nur weiter erhöhen. Dem russischen Präsidenten gehe es darum, "Gas weiterhin als politische Waffe einsetzen zu können. Und das tut er derzeit sehr intensiv."
Darüber hinaus passt das Angebot zur russischen Erzählung, nicht Moskau sondern die Europäer würden die Verantwortung für "diese Geschichte" tragen, wie Außenminister Sergej Lawrow zuletzt am Mittwoch, einen Tag vor dem geplanten Ende der Wartungsarbeiten, wiederholte: "Sie wollen sich von den guten Beziehungen frei machen, die über lange Jahrzehnte hinweg in den Bereichen Energie, Logistik oder Verkehrskommunikation gewachsen sind", so Lawrow. "Bitte schön! Das ist Ihre Wahl." Selber Schuld, so lautet offenkundig die Botschaft.
Dass Nord Stream 2 in Betrieb gehen könnte, ist unwahrscheinlich. "Diese Pipeline geht nicht ans Netz", sagte SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert am Donnerstagmorgen bei "ntv Frühstart". "Zu Nord Stream 2 wurde eine klare politische Entscheidung getroffen." Kühnert wies darauf hin, dass es aktuell nicht an Pipelinekapazitäten fehle, sondern an Liefermengen – und dieses Problem würde die eine zweite Gaspipeline nicht lösen. Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen EU-hat Überlegungen des russischen Präsidenten zur Inbetriebnahme zurückgewiesen. "Ich möchte hier ganz klar sein: Nord Stream 2 ist nicht einmal zertifiziert und überhaupt nicht einsatzbereit", sagte sie am Mittwoch in Brüssel.
Insofern gibt es offenbar eine klare Antwort auf die Frage, die Bayerns Ministerpräsident Söder aufgeworfen hat. Sie lautet: Nein, Nord Stream 2 ist keine Option.