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Kritik am Sturmgewehr G36 Was de Maizière verschwiegen hat

Das Standardgewehr der Bundeswehr nicht treffsicher? Diesen Vorwurf kannten das Verteidigungsministerium und offenbar auch Ex-Minister de Maizière (CDU) seit Jahren - taten aber außer Abwiegeln wenig.
Von Hans-Martin Tillack

Weil es der Tag des Großen Zapfenstreichs für den ausgeschiedenen Bundespräsidenten Christian Wulff war, ist der 8. März 2012 bis heute einigen in Erinnerung. Am selben Tag trafen sich zwei Männer zu einem Vier-Augen-Gespräch, das nun einen der beiden in die Bredouille bringen kann: den heutigen Innenminister Thomas de Maizière.

Anfang dieses Jahres wurde de Maizière ebenfalls mit einem Großen Zapfenstreich verabschiedet - aus dem Amt des Verteidigungsministers. Nachdem er im Fall der Aufklärungsdrohne Euro Hawk seine Behörde nur schlecht in den Griff bekommen hatte, wechselte er zurück ins Innenministerium. Sein Ruf als preußischer Pflichtmensch war beschädigt. Nun holt ihn eine Rüstungsaffäre um das Gewehr G36 ein. Einige in Berlin erinnert sie fatal an den Skandal um die Drohne.

Nach Informationen des stern berichtete ihm damals, am 8. März 2012, der Wehrbeauftragte des Bundestages, Hellmut Königshaus, über Hinweise auf eine mangelnde Treffsicherheit des Sturmgewehrs G36. Es waren Probleme, die im Beamtenapparat des Thomas de Maizière seit geraumer Zeit bekannt waren, die vom Verteidigungsministerium bis heute abgestritten wurden - und deren Brisanz ein geheimer Bericht des Bundesrechnungshofs (BRH) jetzt bestätigt. Der kommt zu dem Schluss, dass das Gewehr immer wieder Schwächen zeige, die "inakzeptabel" seien.

Bedingt tauglich

Thomas de Maizière steht in dieser Geschichte fast noch schlechter da, als im Fall des Euro Hawk. Obwohl er offenkundig frühzeitig über Probleme mit dem Gewehr informiert war, verbreitete das Ministerium unter seiner Führung Informationen, die aus Sicht des Bundesrechnungshofes schlicht irreführend waren: Das Gewehr G36 weise angeblich keine besonderen Mängel auf. Alles funktioniere nach Plan. Am Rande einer Ausschusssitzung im Herbst 2012 soll de Maizière sogar geknurrt haben: "Ich kann mich nicht um jede Waffe kümmern."

Nur ist das G36 nicht irgendeine Waffe, sondern das Standardgewehr der Bundeswehr. Über 176.000 Exemplare hat die Truppe seit 1995 zum Preis von 180 Millionen Euro erworben. In Afghanistan oder auf dem Balkan nutzten es deutsche Soldaten, um sich ihres Lebens zu erwehren oder gegen Aufständische zu kämpfen.

Anders als vom Verteidigungsministerium bis heute auch unter der neuen Chefin Ursula von der Leyen (CDU) behauptet wird, scheint es auch aus den Bundeswehreinsätzen im Ausland Klagen über eine mangelnde Treffsicherheit der Waffe gegeben haben. Auch das bestätigt der seit dem 23. Juni vorliegende Bericht des Rechnungshofes. Wichtige Details aus dem Papier - "VS-Vertraulich – Amtlich geheimgehalten" - wurden bereits vor einigen Tagen bekannt: Etwa der Vorwurf, dass sich das Ministerium "zu spät" und "nur zögerlich" des Vorwurfs einer "eingeschränkten Tauglichkeit und Zuverlässigkeit des Gewehrs G36" angenommen und kritische "Testergebnisse" relativiert habe.

Der komplette Rechnungshofbericht

Dem stern liegt nun der mitsamt allen Anhängen 80 Seiten umfassende Bericht vollständig in Kopie vor. Er belegt ein erstaunliches Eigenleben der Verteidigungsbürokratie: Die zuständige Rüstungsabteilung des Ministeriums versuchte sogar gegenüber der Leitung des Hauses, die Probleme herunterzuspielen. "Die Abteilung wusste es und hat es von der Spitze des Hauses ferngehalten", sagt der Haushaltsexperte Michael Leutert (Linke).

Doch diese Spitze um Thomas de Maizière ließ es mit sich geschehen - und unterließ es ihrerseits, dem Bundestag, der Öffentlichkeit und sogar den eigenen Soldaten die Wahrheit zu sagen.

Der Rechnungshofbericht ist keine schöne Lektüre. Da wird ein Militär mit der Kritik zitiert, das Gewehr habe angeblich "keine Mann-Stopp-Wirkung". Aber wenn Soldaten in Kriegseinsätze geschickt werden, sollten ihre Waffen möglichst zu 100 Prozent funktionieren.

Am G36 gab es bereits Zweifel, bevor es bei dem Oberndorfer Hersteller Heckler & Koch beschafft wurde. Sein Vorteil schien ein relativ geringes Gewicht zu sein, erzielt dank eines Gehäuses aus mit Stahl und Glasfasern verstärktem Kunststoff-Komposit. Doch genau hier scheint laut internen Tests auch seine Schwäche zu liegen: Bereits bei starker Sonneneinstrahlung und erst recht im Dauerfeuer könne der Kunststoff weich werden, das Gewehr sich verziehen – und die Zielgenauigkeit leiden. Bereits im Juni 2010 hatte laut BRH ein Mitarbeiter des Güteprüfdienstes der Bundeswehr gewarnt: Die "durch häufige Schussabgabe in schneller Folge erzeugte Hitze" könne "bei allen Gewehren vom Typ G36 zu deutlichen Präzisionseinschränkungen führen".

Ergebnisse der wehrtechnischen Diensstelle

Zum gleichen Ergebnis kam ab Anfang 2012 die zuständige Wehrtechnische Dienststelle für Waffen und Munition (WTD 91) im niedersächsischen Meppen, die das Ministerium mit einer Prüfung beauftragt hatte. Zitat aus dem endgültigen WTD-Befund vom Juli 2012: "Nur noch 23 % der untersuchten Waffen hielten den Streukreis gemäß Technischer Lieferbedingungen in heißgeschossenem Zustand ein." Bereits auf einer Entfernung von 100 Metern könne ein Gegner "nicht mehr mit ausreichender Sicherheit bekämpft werden".

Die Meppener Bundeswehrbediensteten resümierten laut Rechnungshof, "dass es bei heißgeschossener Waffe" sowohl "zu einer Präzisionsverschlechterung durch eine erhebliche Erhöhung des Streukreisdurchmessers" wie auch zu einer "Verlagerung des mittleren Treffpunktes kam".

Zu deutsch: Die Projektile verteilten sich nicht nur stärker im Raum - sie entfernten sich angeblich überdies auch vom angepeilten Ziel. Man müsse die Nutzer "für diese Effekte sensibilisieren", mahnte die WTD 91. Sie empfahl, "jegliche starke Erhitzung der Waffe, z.B. durch Motorwärme oder Sonneneinstrahlung zu vermeiden". In den ersten Monaten des Jahrs 2012 erfuhr auch das Büro des Wehrbeauftragten von den Testergebnissen. Königshaus sprach darum am 8.März 2012 mit de Maizière und besuchte selbst die WTD 91 in Meppen.

Gestrichene Untersuchung

Wer nicht angemessen reagierte, was das Ministerium. Glaubt man dem Rechnungshof, dann hatte die Behörde unter Thomas de Maizière eine "sofortige Information" der Soldaten "über die tatsächliche Tragweite der Problematik" angekündigt – aber "bis Ende des Jahres 2013 nicht" vorgenommen. Stattdessen, so der BRH, "suggerierte" das Heeresführungskommando den Soldaten "eine Treffsicherheit ihrer Standardbewaffnung, die augenscheinlich so nicht gegeben war".

Und in der Rüstungsabteilung spielte man die Probleme herunter. Bereits im Februar 2012 regten Beamten dort an, die weiteren "Untersuchungen entweder einzustellen oder diese bis zur Klärung nachvollziehbarer Grundlagen auszusetzen", so der BRH. Die Beschaffung weiterer Gewehre des gleichen Typs ging weiter. Als wäre nichts passiert?

Im April 2012 strich das Projektreferat im Beschaffungsamt der Bundeswehr eine geplante Werkstückuntersuchung zum Temperaturverhalten der Baugruppe "Waffengehäuse und Waffenrohr", weil vom Hersteller ohnehin "keine konstruktiven Änderungen" am Gewehr "geplant seien". Weil Heckler & Koch keine Änderungen plant, wird das von der Waffenschmiede gar nicht erst verlangt?

Auch Reihenuntersuchungen der Waffen der Bundeswehr und "Vergleichsuntersuchungen mit baulich anderen Waffen blieben aus", resümiert der Rechnungshof. Als habe man es einfach nicht genau wissen wollen?

Im Mai 2012 stellte die Rüstungsabteilung die Ergebnisse der Testreihen gegenüber der Hausleitung so dar: Das G36 entspreche der Technischen Lieferbedingung (in der tatsächlich keine speziellen Forderungen zum Verhalten des Gewehrs bei Erwärmung enthalten waren). Es gebe "keine Veranlassung", beim Hersteller "Gewährleistung anzumelden". Und auch "aus dem Einsatz lägen keine entsprechenden Meldungen" über eine mangelnde Treffsicherheit vor.

Merkwürdig, dass der Rechnungshof bereits im Juli 2012 dem Verteidigungsministerium das genaue Gegenteil mitteilte: "Die Einsatzkontingente meldeten unzureichende Treffgenauigkeit nach schneller Schussabgabe im Feuergefecht." Auch das Beschaffungsamt der Bundeswehr sehe "den Schutz der Soldaten im Einsatz gefährdet".

Empörung unter Militärs

In Berlin kam das offenbar irgendwie nicht an. Und der damalige Abteilungsleiter für Rüstung soll in einer Klausur am 15. Oktober 2012 betont haben, dass das Ministerium die Firma Heckler & Koch "in 2012 bzgl. der G36-Problematik stark unterstützt" habe.

Viel Unterstützung für die Lieferfirma also - weniger für die Soldaten. Im August 2013 beklagten sich laut BRH-Bericht Vertreter des Heeres über das G36. Die "Einschränkungen im Gefecht" seien "nicht hinnehmbar". Andere Militärs, so der Rechnungshof, "zeigten sich außerdem empört darüber, dass sie erst so spät...über den tatsächlichen Umfang der 'Effekte' in Kenntnis gesetzt wurden". Zitat aus dem Bericht: "Sie bestanden darauf, künftig ein anderes Gewehr zu beschaffen."

Doch selbst ein erster kritischer Berichtsentwurf des BRH vom November 2013 an de Maizières Staatssekretär Stéphane Beemelmans stieß im Verteidigungsministerium offenbar auf taube Ohren. Statt mit einer eigenen Stellungnahme zu antworten, konfrontierten die Ministerialen die Prüfer mit zusätzlichen Untersuchungsergebnissen. Demzufolge sei "eindeutig" allein die Munition eines Herstellers für die sinkende Trefferquote verantwortlich - eine Position, die das Ministerium noch im Februar 2014 unter von der Leyens Ägide vertrat. Der Rechnungshof widerspricht dem: "Einsatzmeldungen und Erfahrungen der Bundeswehr im Schießbetrieb bestätigen unverändert eine von der Munition unabhängige mangelnde Treffgenauigkeit", so die Prüfer.

Keine Fehlerkultur

Wie kann es sein, dass ein ganzes Ministerium so versagt? Es gebe "keine Fehlerkultur" in der Behörde, sagt einer, der es wissen muss. Würde man Probleme zugeben, müsste man ja für sie geradestehen.

Sicher ist auch, dass die Berichte über die mangelnde Treffsicherheit des G36 gefährlich für den Ruf des exportstarken Herstellers Heckler & Koch sind.

Das Unternehmen hat den Rechnungshof bereits heftig attackiert. Der habe seine Kritik "ohne belastbare Kenntnisse" und ohne "wehrtechnische Kompetenz" formuliert. Das G36 sei "absolut zuverlässig" - dies hätten "alle bisherigen Untersuchungen ergeben". Wenn es in der Vergangenheit im heiß geschossenen Zustand zu Problemen mit der Treffgenauigkeit gekommen sei, "so lag dies allein an einer bestimmten Munitions-Charge eines Munitionsherstellers, nicht jedoch am Gewehr G36", sagt die Firma. Jetzt müsse "der potentielle wirtschaftliche Schaden für Heckler & Koch begrenzt" werden.

Das Unternehmen steckt in keiner beneidenswerter Lage. Es ist in der Hand eines Finanzinvestors und schleppt hohe Schulden mit sich herum. 2011 wie 2012 war Heckler & Koch laut eigenen Angaben im Bundesanzeiger sogar "buchmäßig überschuldet" – aber weil sich "die operative Geschäftsentwicklung weiter positiv entwickelt", so die Firma, drohe keine Gefahr.

Kauders Wahlkreis, de Mazières Schweigen

Zugleich hatte das Unternehmen zumindest in der Vergangenheit prominente Unterstützer in der Politik. Der Oberndorfer Firmensitz liegt im württembergischen Wahlkreis von Volker Kauder, dem Fraktionschef von CDU/CSU. Der habe "immer wieder die Hand über uns gehalten", lobte ihn Hauptgesellschafter Andreas Heeschen im Jahr 2009. Kauder lässt seinen Sprecher aber versichern, dass er sich nie gegenüber de Maizière oder anderen für das Gewehr G36 eingesetzt habe.

Die Geschichte dieses Gewehrs sei "der absolute Hammer", sagt der Abgeordnete Michael Leutert. Am Mittwoch hat der Haushaltsausschuss des Bundestages einen Beschaffungsstopp beschlossen. Selbst das Verteidigungsministerium ist nun bereit, die umstrittene Waffe genauer untersuchen zu lassen - obwohl von der Leyens Leute immer noch so tun, als gebe es eigentlich gar kein Problem. Fragen des stern ließ das Ministerium gleich ganz unbeantwortet.

Als ginge es nicht um einen überaus ernsten Vorgang: "Das Ministerium schickt Soldaten mit einem Gewehr in den Einsatz, an dessen Funktionstüchtigkeit man ernsthafte Zweifel hat", so etwas gehe einfach nicht, sagt der Grünen-Verteidigungsexperte Tobias Lindner. Und Thomas de Maizière? Wusste er wirklich nichts von den Problemen mit dem G36? Das sei "schwer vorstellbar", sagt Lindner.

De Maizière selbst schweigt. Er will auch nichts zu dem Gespräch mit dem Wehrbeauftragten am 8. März 2012 sagen. Fragen zum G36 knüpften "an das Amt des ehemaligen Ressortchefs" für Verteidigung an, richtet sein Abgeordnetenbüro aus: "Bitte wenden Sie sich daher mit Ihren Fragen dorthin."

De Maizière tut so, als habe er mit dem Abschied aus dem Verteidigungsressort auch seine persönliche Verantwortung an der Garderobe hinterlassen. Passt so etwas zu einem preußischen Pflichtmenschen? Nein, eher nicht.

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