Der NSU-Prozess ist beendet, die juristische Aufarbeitung von zehn überwiegend rassistisch motivierten Taten damit abgeschlossen. Doch Kritik an den Ermittlern bleibt, viele Fragen sind offen. Das meinen nicht nur die Angehörigen der Opfer, Menschenrechtsorganisationen, Verbände und Politiker, sondern auch die Kommentatoren der deutschen und internationalen Presse. Die Stimmen im Überblick:
Reportagen, Hintergründe, Kommentare, Analysen, Meldungen und Videos zur beispiellosen Terrorserie des NSU, zur Aufarbeitung und zum Urteil finden Sie hier:
Inlandspresse zum NSU-Urteil
"Süddeutsche Zeitung" (München): "Ist das Urteil ein Paukenschlag? Die Strafe für Zschäpe ist die schärfste, die möglich war: lebenslange Haft plus Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Das ist angemessen; auf die Anordnung der Sicherungsverwahrung konnte das Gericht verzichten; Zschäpe wird auf Jahrzehnte hinaus nicht auf Bewährung entlassen werden können. Einige werden das Urteil mutig nennen, weil Zschäpe bei den Morden nicht am Tatort war und trotzdem als Mittäterin verurteilt wurde. Ein Paukenschlag ist das trotzdem nicht. Wer glaubt, dass jemand, der nicht am Tatort war, nicht wegen Mittäterschaft verurteilt werden kann, ist naiv. Zschäpe hatte Organisationsmacht, sie war mit der Beschaffung von Waffen, Tatfahrzeugen und falschen Papieren befasst und Verwalterin der Beute der Raubüberfälle. Wenn das nicht für Mittäterschaft genügt!"
"Die Welt" (Berlin): "Der NSU-Prozess geht nun zu Ende. Es war eigentlich ein normaler, wenn auch ungewöhnlich langer und teurer Strafprozess. Aber keineswegs ein Jahrhundertprozess. Denn in München war nicht über Völkermord, sondern über eine Serie von zehn Morden verhandelt worden, die zwei fanatische und verblendete junge Männer und eine Frau aus Thüringen verübt hatten. So manche Hinterbliebenen, so scheint es, wissen zurzeit mit dem Urteil noch wenig anzufangen. Sie sind enttäuscht, denn es verschafft ihnen keine Genugtuung. Sie hatten an das leichtfertig dahingesagte Versprechen der Bundeskanzlerin geglaubt, der Staat werde alles tun, um die Hintermänner der NSU-Verbrechen zur Rechenschaft ziehen. Und wo sind sie nun, diese Hintermänner? Die Opfer sind über das ihnen angetane Leid hinaus durch die Täter und später durch die Ermittler auch noch politisch instrumentalisiert worden."
"Frankfurter Rundschau": "Das Urteil ist gefallen. Für die Verurteilten im NSU-Prozess sind die Konsequenzen klar - jedenfalls bis zur möglichen Revision. Gut, dass das Gericht Beate Zschäpe als Mittäterin sieht, bitter, dass es die Trio-These der Bundesanwaltschaft wohl übernimmt und etwa der stets treue Helfer André E. glimpflich davonkommt. Manche werden jetzt aufatmen: Der Mammutprozess ist vorbei. Aber einen Schlussstrich darf es nicht geben. Die Aufarbeitung, die Suche nach Antworten dürfen nicht aufhören. Das Gericht hat entschieden, aber die Konsequenzen aus dem NSU zu ziehen, ist Aufgabe aller - der Politik, der Behörden, der Medien, der Bürger. Und es ist noch viel zu tun. Wer 'nie wieder' sagt, kann nicht 'weiter so' machen."
"Weser-Kurier" (Bremen): "Zschäpes Anwälte haben bereits angekündigt, beim Bundesgerichtshof gegen das Urteil Revision einzulegen. Die Argumentationslinie: Die 43-Jährige sei in keinem einzigen Fall am Tatort gewesen, und Mitwisserschaft sei nun einmal keine Mittäterschaft. Das Ganze könnte noch spannend werden - denn der BGH ist dafür bekannt, in Fragen der Mittäterschaft strenge Maßstäbe anzulegen."
"Trierischer Volksfreund": "Das hohe Strafmaß ist sicher eine gewisse Genugtuung für die Hinterbliebenen, ein kleiner Trost für ihren großen Schmerz?- und ihre Verzweiflung am Rechtsstaat. (...) Das Versprechen der Kanzlerin nach rückhaltloser Aufklärung hat sich nur zum Teil erfüllt. Schon deshalb kann es keinen Schlussstrich geben. Juristisch ohnehin nicht, weil Zschäpes Verteidiger in Revision gehen wollen, was ihr gutes Recht ist. Und politisch schon gar nicht. Denn die entscheidende Frage bleibt doch, ob sich eine derart furchtbare, braun motivierte Verbrechensserie wiederholen kann. Einschlägige parlamentarische Untersuchungsausschüsse haben dazu eine Fülle von Vorschlägen entwickelt. Höchste Zeit für einen wirksamen 'Masterplan', Herr Seehofer."
"Kölner Stadt-Anzeiger": "Das Urteil gegen Beate Zschäpe entspricht zweifellos den Erwartungen einer breiten Öffentlichkeit. Trotzdem bleibt der Ausgang des Mammutverfahrens unbefriedigend. Das Gericht hätte einen Aufklärungsbeitrag zur fragwürdigen Rolle des Verfassungsschutzes leisten und Erkenntnisse über Hintermänner und Helfershelfer zutage fördern müssen. Auf einer bislang nur unzureichend ausgewerteten 'Todesliste' des NSU stehen 10.000 Namen. Schlussstrich? Das wäre töricht und gefährlich."
"Emder Zeitung": "Es fiel und fällt bis heute schwer, zu glauben, dass der Weg zu einem rteil derart lang und mühselig sein musste. Das lag sicherlich an den vielen Verästelungen dieses Falls, denen das Gericht nachzugehen hatte. Die lange Prozessdauer ist aber wohl ebenso der besonderen Sorgfalt geschuldet, die das Gericht auf den Fall verwendet hat. Ja, es ist ein wegweisendes Urteil, das erwartungsgemäß von der Verurteilten angefochten werden wird. Und ja, es ist gut und richtig, dass mit dem Ende des Prozesses das Thema NSU/rechtsextremistischer Terror nicht ad acta gelegt wird. In Zeiten wie diesen einfach zur Tagesordnung überzugehen, wäre fatal."
"Der neue Tag" (Weiden): "Die Pannenserie des Staates ist genauso so lange wie die Blutspur der Neonazis. Die Arbeit der Geheimdienste muss radikal auf den Prüfstand gestellt werden. "Döner-Morde": So wurden viele Jahre lang die grausamen Verbrechen vor allem an Türken bezeichnet. Ein perfides Schlagwort: gut zu merken, aber schwer zu verdauen. Denn es besagt viel über das Innenleben der Deutschen. Es ist eine verbale Erniedrigung. Motto: Türken töten Türken, ein kriminelles Milieu, eh klar. Dieser alltägliche Rassismus ist längst nicht aus den Köpfen. Mit dem Urteil gegen die NSU-Terroristen mag ein Stück Gerechtigkeit eingekehrt sein. Der Nährboden für die Taten ist aber noch längst nicht ausgetrocknet."
"Münchner Merkur": Viele Aspekte machen diese kaltblütige rechte Mordserie zu einem traurigen Lehrstück. Das NSU-Trio tauchte ja nicht aus dem Nichts auf. Es war aufgewachsen in den 1990er-Jahren im Osten der Republik, fasziniert von der damaligen Welle der Gewalt gegen Ausländer, angeleitet durch ältere Neonazis, ehe es ab 1998 abtauchte. Wenn das Beschwören des "Nie wieder" einen Sinn haben soll, dann diesen: Einen solchen Dunstkreis von Unterstützern und Sympathisanten, in dem sich das Mordtrio ungehindert bewegen konnte, darf es nicht mehr geben. In Zeiten zunehmend aggressiver Stimmung gegen Ausländer ist diese Mahnung aktueller denn je."
"General-Anzeiger" (Bonn): "Die Gesellschaft und ihr Staat tun gut daran, wachsam zu bleiben und die extremen Ränder des politischen Spektrums im Blick zu behalten. Und wer aktuell Debatten führt, muss wissen, was aggressive Töne zum Beispiel gegen Minderheiten bewirken können. Unerwünschte Nebenwirkungen sind möglich. Das Urteil von München bringt ein Stück des verlorenen Vertrauens zurück. Ohne dieses Vertrauen wird eine absehbar unruhige Zukunft noch unruhiger."
"Berliner Morgenpost": "Beate Zschäpe, die jahrelang mit den Rechtsterroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt im Untergrund lebte, erhielt die Höchststrafe: lebenslang, mit besonderer Schwere der Schuld. Das Urteil ist scharf, denn einen Mord konnte die Staatsanwaltschaft ihr nicht nachweisen. Beweise dafür, dass Zschäpe an einem der Tatorte war, gibt es nicht. Das Urteil ist dennoch gerecht. Zschäpe hat den NSU nach außen hin gedeckt, sie hat von den Morden gewusst, sie hat im Urlaub die Gruppe getarnt, sie hat nach dem Auffliegen des NSU die Bekenner-DVDs verschickt. Sie war Mittäterin. Es ist nicht Aufgabe des Gerichts, den Verfassungsschutz abzuurteilen. Ein Richter soll die individuelle Schuld eines Menschen klären - nicht die Fehler eines Systems. Doch genau deshalb darf nach dem Urteil gegen Zschäpe nicht Schluss sein."
"Schwäbische Zeitung" (Ravensburg): "Nach der Urteilsverkündung im NSU-Prozess dürfte es zumindest in politischen Kreisen eine gewisse Erleichterung gegeben haben. Was wäre gewesen, wenn das Oberlandesgericht München die Mittäterschaft Beate Zschäpes an den Morden als nicht erwiesen angesehen hätte? Im Vorfeld hatte es solche Befürchtungen gegeben. Im Extremfall wäre vielleicht nur schwere Brandstiftung übriggeblieben - mit der Folge eines mildereren Richterspruchs. Von vielerlei Seiten hätte es dann geheißen: ein Skandalurteil. Der Strafsenat hätte es wohl trotzdem gefällt, wenn er der entsprechenden Überzeugung gewesen wäre. Politischem Druck nachzugeben, ist nicht das Ding des als stur bekannten Vorsitzenden Richters Manfred Götzl. Gleichzeitig machen die tatsächlich vorhandenen Befürchtungen, dass Zschäpe zu einfach davonkommen könnte, etwas sehr Einschneidendes deutlich: Bis in die letzte Verzweigung hinein ist der NSU-Komplex bei weitem nicht aufgeklärt. Vieles bleibt nebulös."
"Straubinger Tagblatt/Landshuter Zeitung": "Schon lange war erkennbar, dass sich die Richter nicht durch die durchsichtige und unglaubwürdige Strategie der Hauptangeklagten und ihrer wechselnden Verteidiger würden täuschen lassen, sich als unwissende Freundin der beiden ums Leben gekommenen Haupttäter zu präsentieren, welche die Morde eigentlich verabscheute. So wie sich Beate Zschäpe in den gesamten Prozess gezeigt hat, kann man ihr auch kein ehrliches Bedauern über die Morde an zehn Menschen und zwei Bombenanschlägen abnehmen. Die Verurteilung Zschäpes als Mittäterin und die Höchststrafe waren unausweichlich."
"Stuttgarter Zeitung": "In Baden-Württemberg und fünf weiteren Bundesländern sind NSU-Ausschüsse dabei, die Struktur der rechten Szene zu beleuchten, Details und Zusammenhänge zu erforschen. Diese Arbeit muss mit Wucht weitergeführt werden. Sie ist schwieriger als der Münchner Prozess, weil es in den Landtagen zumeist an einem plakativen Gesicht wie dem von Beate Zschäpe fehlt, an dem das öffentliche Interesse festgemacht werden kann. Das Allerwichtigste ist aber, dass eine gut informierte und aufgeweckte Gesellschaft nicht gleichgültig auf Fremdenfeindlichkeit und Rassismus reagiert. Das gilt heute mehr denn je."
"Neue Osnabrücker Zeitung": "Beate Zschäpe ist schuldig. Aber nicht sie allein. Der NSU-Prozess hat verdeutlicht, mit welcher Bräsigkeit Beamte und Behörden die beispiellose Serie rechtsextremer Morde begünstigt, ja ermöglicht haben. Aber letztlich war es die gesamte Gesellschaft, die auf dem rechten Auge blind war und kranke Taten dieser Dimension nicht für möglich hielt. An alles Mögliche dürften die Menschen vorschnell und letztlich rassistisch gedacht haben, nicht aber an rechten Terror eines deutschen Netzwerks. Für das Bagatellisieren von Gewalt darf es kein Verständnis geben, für Selbstzufriedenheit der angeblich so akkuraten deutschen Verwaltung ebenfalls nicht. Auch die Aufarbeitung des NSU-Terrors sollte mit dem Urteil nicht als abgeschlossen gelten. Die Taten wirken weiter. Hoffentlich auch die Lehren."
"Mannheimer Morgen": "Was bleibt neben den hohen Haftstrafen nach mehr als fünf Jahren NSU-Prozess übrig? Hat er darüber hinaus etwas bewirkt? Für die Mehrheitsgesellschaft muss man sagen: eigentlich nicht. Längst reden wir wieder mehr über Abschiebungen und Grenzkontrollen als über Integration; längst geht es wieder um ein Flüchtlingsproblem statt um Menschen in Not; längst ist die gesellschaftliche Stimmung wieder nach rechts gekippt. Das zeigt nicht nur der Erfolg der AfD. Sondern noch erschreckender das beschämende Verhalten der CSU. NSU, war da was?"
"Badische Neueste Nachrichten" (Karlsruhe): "Ein Urteil ist nicht mehr als ein juristischer Schlussstrich. Es beendet nicht die politische Debatte, es stoppt nicht die gesellschaftliche Herausforderung und erst recht hilft es nicht den Angehörigen, die mit ihrem Leid alleine umgehen müssen. Das gilt auch nach dem Urteil in einem der gewaltigsten Prozesse, den die Bundesrepublik Deutschland bislang erlebt hat."
"Westfälischen Nachrichten" (Münster): "Lebenslang für Beate Zschäpe. Nach mehr als fünf quälend langen Jahren NSU-Prozess sollte es ein Aufatmen geben - endlich ein Urteil. Und doch: Mit Gerechtigkeit oder auch Genugtuung für die Angehörigen der NSU-Opfer hat der Spruch des Oberlandesgerichts München nichts zu tun. Es ist nicht mehr als das vorläufige Ende eines der größten und aufwendigsten Verfahren der deutschen Nachkriegsgeschichte."
"Neue Presse" (Hannover): "Man darf keinen Schlussstrich unter die NSU-Affäre ziehen. Da haben die Demonstranten in vielen Städten Deutschlands recht. Sie werden häufiger auf die Straße gehen müssen - denn noch immer ist völlig unklar, wie groß das braune Netzwerk rund um das mörderische Trio war - und wie sehr der Verfassungsschutz beteiligt war. Und der Aufklärungswille ist - dezent ausgedrückt - gering. Aber der NSU und zuallererst die Opfer dürfen nie vergessen werden. Sie müssen eine stete Mahnung bleiben dafür, dass der rechte Terror leider ein Teil der Gesellschaft ist - und der muss konsequent bekämpft werden. Auf allen Ebenen."
"Allgemeine Zeitung" (Mainz): "Die Geschichte des NSU ist auch die Geschichte eines eklatanten Staatsversagens in der Bundesrepublik Deutschland. Viele Jahre lang zog eine Mörderbande durchs Land und brachte Unschuldige um. Das Unterstützerumfeld wird auf 100 bis 200 Personen geschätzt. Die meisten blieben unerkannt oder unbehelligt."
"Mittelbayerische Zeitung" (Regensburg): "Und doch besteht Hoffnung, dass dieser Prozess zweierlei Dinge zeigt: Dieser Staat geht mit Härte gegen diejenigen vor, die seine demokratischen Grundwerte ablehnen. Er tut das auf Grundlage des Rechts. Was nicht geschehen darf, ist, so zu tun, als sei dieses Kapitel deutscher Geschichte erledigt. Kein Urteil kann darüber hinwegtäuschen, dass die Hinterbliebenen nie Genugtuung erfahren können für den Verlust, für die Demütigung, die sie erlitten haben. Wir müssen wachsam bleiben. Demokratie ist kein Selbstläufer. Vor allem nicht in diesen Zeiten."
"Reutlinger General-Anzeiger": "Das Gericht war auf Indizien angewiesen und hat in Anbetracht der schwierigen Beweislage ein mutiges Urteil gesprochen. Ob es Bestand haben wird, muss sich noch zeigen. Doch auch wenn das Ergebnis unbefriedigend ist, muss sich die Bundesrepublik nicht vorwerfen lassen, ein Auge zugedrückt zu haben. Der Staat kann keine Garantie geben, jeden Mordfall aufzuklären. Aber er muss zeigen, dass er alles unternommen hat und alle juristischen Mittel ausgeschöpft hat. Das kann man dem Gericht nicht absprechen. Es hat in 440 Prozesstagen versucht, mit rechtsstaatlichen Mitteln für Transparenz zu sorgen. Mehr kann man nicht erwarten."
"Frankfurter Neue Presse": "Es ist noch nicht aufgeklärt, wie sehr sich Verfassungsschützer und Behörden an der Mordserie mitschuldig gemacht haben, indem sie zur Zeit des Abtauchen des Nazi-Trios wichtige Spuren nicht verfolgten. Aus Schlampigkeit, weil sie Quellen schützen wollten oder gar Schlimmeres? Dies muss jenseits der Frage nach der Schuld Zschäpes und ihrer Mitangeklagten noch einmal aufgearbeitet werden."
"Oberhessische Presse" (Marburg): "Mehr als fünf Jahre hat das Oberlandesgericht gebraucht, um die Morde des "Nationalsozialistischen Untergrunds" aufzuklären. Moment: aufzuklären? Das wäre wohl zu hoch gegriffen. Gestern wurden Beate Zschäpe und vier Männer aus dem Umfeld des untergetauchten Trios verurteilt. Dem Rechtsstaat wurde demnach Genüge getan. Abläufe der Verbrechen wurden nachvollziehbar, auch das. Die Ideologie, die dahinter stand, wurde aber schon nur oberflächlich beleuchtet. Und keiner beantwortete den Hinterbliebenen die Frage, warum gerade ihre Liebsten sterben mussten."
"Aachener Zeitung": "Schauen wir auf das Jahr 2018: Sieben Jahre nach der Aufdeckung des NSU wurde die Verantwortung der Behörden zwar in zahlreichen
Ausschüssen "untersucht", die Ergebnisse aber sind äußerst vage. In sozialen Netzwerken wird wie selbstverständlich menschenverachtend über Flüchtlinge gehetzt. Außerdem wird ernsthaft darüber diskutiert, Menschen im Mittelmeer sterben zu lassen, um ein abschreckendes Beispiel an potenzielle Flüchtlinge zu senden. Das Prozessende darf nicht das Ende der NSU-Aufarbeitung sein. Eine ernsthafte Debatte über die Gesellschaft, in der der rechtsextreme Terror wuchs, sollte beginnen - endlich."
"Rhein-Neckar-Zeitung" (Heidelberg): "Doch trotz all dieser Mängel. Trotz des Wissens um die Unwissenheit, ist dieses Urteil ein gutes Urteil. Denn es entlässt die Mitverschwörerin Zschäpe nicht aus ihrer Schuld. Zugegebenermaßen liegen die Indizien, die gegen Zschäpe sprechen, eher im Bereich des gesunden Menschenverstandes: Wer Banküberfälle duldet, wer die Beute versteckt, wer Bekennervideos verschickt, und für die Mörder das Heimchen am Herd mimt, der ist ein Mittäter. So klar sagt es das Urteil. Und es ist genau deshalb ein Trost für die Angehörigen der Opfer."
"Rhein-Zeitung" (Koblenz): "Das Urteil ist ein wichtiges Signal: Dieses Land toleriert keine blutige Gewalt gegen seine Mitbürger. Der Rechtsstaat ist am Ende
doch in der Lage, sich gegen solche Täter zu wehren. Die gesellschaftliche Aufarbeitung der Morde des NSU muss weitergehen. Auch damit nicht noch einmal passiert, was Ende der 1990er die Taten des NSU erst ermöglichte: dass rechtsextremer Terror aus dem Blick gerät."
"Hessische Niedersächsische Allgemeine" (Kassel): "Die von den NSU-Taten betroffenen Familien waren integriert, sie leben hier, verdienen hier ihr Geld. Wie erklärt sich dann, dass die Morde und ihre Opfer eine geraume Zeit mit einer gewissen Distanz wahrgenommen wurden? Integration ist eben nicht einseitig. Sie bedeutet auch die Bereitschaft der Deutschen anzuerkennen: Diese Menschen sind nicht "ausländische Mitbürger", sondern Bürger dieses Landes."
Auslandspresse zum NSU-Urteil
"Der Standard" (Wien): "Kanzlerin Angela Merkel hat 2012 versprochen, man werde alles tun, um 'die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen'. Doch dieses Versprechen ist bis heute nicht eingelöst. Es gibt noch viele offene Fragen, etwa nach der Rolle des Verfassungsschutzes und seines Schweigens. (...)Es laufen immer noch Ermittlungsverfahren gegen mehrere Personen und gegen unbekannt. Diese müssen vorangetrieben werden, Zschäpes Schweigen muss ein Auftrag sein. Denn die Bedrohung durch Rechtsextremismus bleibt, und in einer Zeit, in der der Ton gegen 'die Fremden' immer rauer wird, darf Kanzlerin Merkel ihr Versprechen von 2012 nicht vergessen. Deckel drauf und Schlussstrich, das wäre nach diesem Urteil fatal."
"Neue Zürcher Zeitung": "Es braucht wenig Phantasie, sich vorzustellen, was die häufigen Anschläge auf Flüchtlingsheime bei heutigen Rechtsextremen auslösen könnten. Auch die Art und Weise, wie immer mehr Menschen über Flüchtlinge reden, dient nicht unbedingt dazu, diese als Mitmenschen zu betrachten und zu schützen. Hinzu kommt, dass die Verbreitung von Hassparolen und Hetze in Zeiten von Facebook und Messenger-Diensten so einfach ist, wie sich das der NSU noch gar nicht erträumen konnte. Das Fazit des NSU-Prozesses müsste daher sein, dass die Gesellschaft äußerst wachsam und zudem willens sein muss, rechtsextremes Gedankengut rechtzeitig zu erkennen. Jeder und jede muss den Mut aufbringen gegenzusteuern."
