Ukraine-Krieg Dmitri Medwedew: Von Putins Biedermann zum großrussischen Scharfmacher

Wladimir Putin und Dmitri Medwedew
Kein Zweifel, wer hier Herr ist: Wladimir Putin und Dmitri Medwedew (hinten) am Tag von Medwedews Rücktritt im Januar 2020
© Dmitry Astakhov/Pool Sputnik Government/AP / DPA
Früher galt er als liberaler Hoffnungsträger, jetzt droht er mit Atomkrieg, verbreitet Verschwörungstheorien und höhnischen Zynismus. Russlands Ex-Präsident Dmitri Medwedews Radikalisierung ist noch eigentümlicher als die Wladimir Putins.

Woldymyr Selenskyj erzählt gerne die Anekdote, dass Dmitri Medwedew ihn nach einer Show zu sich rief und sagte: "Es hat mir sehr gefallen. Aber bei uns ist so etwas nicht erlaubt." Selenskyj meinte darauf, dass ein Mitglied seiner Truppe sogar einen russischen Pass habe. "Dann ist ja gut, dass er hier ist", so Medwedew. Milde im Ton, aber unmissverständlich in der Sache lief diese Begegnung ab, von der stern-Reporterin Bettina Sengling in ihrem Selenskyj-Porträt erzählt. Damals war der eine, Selenskyj, noch der Nummer-eins-Komiker in der Ukraine und der andere, Medwedew, die Nummer eins im Kreml. Mittlerweile ist der eine ukrainischer Präsident und der andere Scharfmacher des imperialistischen Russlands.

56 Jahre ist Dmitri Medwedew jetzt alt, von Altersmilde oder gar diplomatischem Comment kann bei ihm aber keine Rede sein. Vor allem seit Russland den Nachbarn Ukraine überfallen hat, fällt die Wortwahl des promovierten Juristen immer extremer aus. So erklärte er Finnland und Schweden wegen ihres Interesses an einer Nato-Mitgliedschaft kurzerhand zu "offiziellen Gegnern Russlands". Was beinahe noch höflich anmutet angesichts der Drohkulissen, die Medwedew, der aktuell das Amt des "Vizesekretärs des russischen Sicherheitsrates" bekleidet, zuletzt vom Stapel gelassen hat. Ein paar Kostproben:

Vereinzelte Missgeburten, die sich selbst als 'ukrainische Regierung' bezeichnen, erklären, dass sie ein Geständnis aus Viktor Medwedtschuk herausprügeln, ihn 'schnell und gerecht' verurteilen und dann gegen Gefangene austauschen wollen.

(Als Reaktion auf die Festnahme des wegen Hochverrats angeklagten, ukrainischen Putin-Vertrauten Medwedtschuk vor Ostern)

Es gebe eine Verschwörung, ein "primitives Spiel, um Russland zu zerstören. Es bedeutet, dass Russland gedemütigt, eingeschränkt, zerschmettert, geteilt und zerstört werden muss… (Doch) Eine Welt nach Putin würde zu einer instabilen Führung in Moskau führen, die über eine maximale Anzahl von Atomwaffen verfüge, die auf Ziele in den Vereinigten Staaten und in Europa gerichtet sind.

(Über die angeblichen Pläne der USA, einen Regimewechsel in Moskau herbeiführen zu wollen)

Jetzt wurden die Interessen der Bürger Polens der Russophobie dieser mittelmäßigen Politiker und ihrer Puppenspieler von jenseits des Ozeans mit deutlichen Anzeichen senilen Wahnsinns geopfert.

(Aus einer Schrift mit dem Titel "Über Polen". Mit dem "Puppenspieler" ist US-Präsident Joe Biden gemeint)

Na dann, willkommen in einer neuen Welt, in der die Europäer bald 2000 Euro für 1000 Kubikmeter Gas bezahlen werden.

(Als Reaktion auf die Ankündigung, die Gaspipeline Nord Stream 2 nicht ans Netz gehen zu lassen)

Diese schwierigen Aufgaben sind nicht auf die Schnelle zu erfüllen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn die Ukraine das gleiche Schicksal erleiden würde wie das Dritte Reich.

(Über das russische Kriegsziel, die Ukraine zu "entnazifizieren und zu entmilitarisieren")

Das wird für alle billiger sein. Und dann werden wir uns am Ende nur noch mit dem Gewehr im Anschlag gegenüberstehen.

(Über die Ausweisung von 150 russischen Diplomaten aus diversen EU-Ländern)

Der skrupellose Fäusteschwinger

Eine kaum verklausulierte Drohung mit einem Atomkrieg, Verschwörungstheorien und höhnischer Zynismus: Die Wandlung Dmitri Medwedews vom einst gewissenhaft-liberalen Arbeiter im Kreml zum skrupellosen Fäusteschwinger wirkt noch eigentümlicher als die Radikalisierung Wladimir Putins. Mutmaßlich aber sind die beiden den Weg nach Rechtsaußen gemeinsam gegangen, so wie sie auch die vergangenen 30 Jahre zusammen Seit' an Seit' geschritten sind. Medwedew, der Mittelstandssprössling und Putin, das Arbeiterkind, kommen beide aus St. Petersburg und haben dort zusammen ihre Karriere begonnen, die sie letztlich in den Moskauer Kreml führte. Von wo sie auch so bald nicht weichen wollen.

Als Wladimir Putin 2008 nach zwei Amtszeiten als russischer Präsident aufhören musste, übernahm Dmitri Medwedew, damals Vize-Ministerpräsident, den Posten. Putin rückte ins zweite Glied zurück und wurde Regierungschef. Der Neue galt als liberal, viele setzten die Hoffnung in ihn, dass Russland endlich moderner und offener werden würde. Doch sie wurden enttäuscht, Medwedew blieb blass. Sein Feldzug gegen Georgien 2008 kostete ihn international Ansehen, innenpolitisch war er "nur noch die lächelnde Fassade des Regimes", wie die "Neue Zürcher Zeitung" schrieb. 2012 tauschte er die Posten mit Putin zurück.

Medwedew, Putins Prügelknabe

Acht Jahre lang diente Putins treuer Begleiter anschließend als Ministerpräsident, seine Hauptaufgabe bestand vor allem darin, dem Präsidenten den Rücken freizuhalten. Als Regierungschef übernahm er die Verantwortung für fast alle Fehler der Politik Putins, mit der Folge: Alle lieben den Präsidenten, aber niemand Medwedew. Seine rhetorischen Aussetzer waren eine zusätzliche Bürde. So belehrte er 2016 einen Lehrer, als der wissen wollte, warum Pädagogen in Russland nur die Hälfte des Gehalts eines Polizisten erhielten: "Der Lehrerberuf ist Berufung. Wer Geld verdienen will, soll in die Wirtschaft gehen."

Der mittlerweile in Dauerhaft sitzende Oppositionelle Alexander Nawalny hatte 2017 erhebliche Korruptionsvorwürfe gegen Medwedew erhoben: So gehöre der Regierungschef, der einst als Korruptionsbekämpfer angetreten war, zu "reichsten und korruptesten Politiker Russlands". Nawalny legte Material vor, nach dem Medwedew heimlicher Besitzer eines Imperiums luxuriöser Anwesen im In- und Ausland, von Weinbergen und Yachten im Wert von umgerechnet einer Milliarde Euro sei. Bemerkung des Ministerpräsidenten dazu: "Ich werde nicht das absolut verlogene Produkt politischer Betrüger kommentieren."

Im Januar 2020 trat Medwedew als Regierungschef zurück und wurde noch am selben Tag zum Vizesekretär des russischen Sicherheitsrates ernannt. Eine klare Degradierung. Dennoch gehört er weiter zum inneren Kreis Putins, der während der Corona-Pandemie angeblich stark geschrumpft sein soll. Auf seinem neuen Posten war Medwedew lange still. Doch mit den Kriegsvorbereitungen fiel ihm offenbar die Rolle zu, den Westen anzubellen und ihn mit Eskalationsdrohungen einzuschüchtern. "Er wiederholt die Rhetorik Putins und spitzt sie mit Blick auf einen möglichen Atomwaffeneinsatz zu", sagte Politologin Gwendolyn Sasse dem Berliner "Tagesspiegel".

Vorbild Faschisten-Philosoph

Manche Äußerungen aber lassen darauf schließen, dass Medwedew zu einem Anhänger einer faschistischen, großrussischen Ideologie geworden ist. So setzte er jüngst das Schicksal der Ukraine mit dem Nazideutschlands gleich. "Das ist der Weg für so eine Ukraine", aber der Zusammenbruch könne den Weg für "ein offenes Eurasien von Lissabon bis Wladiwostok" öffnen. Letzteres ist exakt die Wortwahl des faschistischen Philosophen Alexander Dugin, der ein "eurasisches Kontinental-Imperium" unter Führung Russland propagiert. "Jede unsere bisherigen Schritte, Niederschlagung der tschetschenischen Separatisten, die Befreiung von Südossetien und Abchasien und jetzt der Krim, ist ein Schritt Richtung Europäische Revolution", schrieb er 2014.

Dugin wiederum bezieht sein Denken auf den russischen Hitler-Anhänger Iwan Iljin, der schon in den 30er-Jahren die Ukraine nur in Anführungsstrichen erwähnte. Aus seinen Schriften bedient sich auch Wladimir Putin immer häufiger bei seinen Reden. Sein treuer Kompagnon Dmitri Medwedew verfasste unlängst einen Kommentar in der staatlichen Nachrichtenagentur Ria Nowosti, in der er eine auf Generationen angelegte Umerziehung unter russischer Kontrolle forderte. "Entnazifizierung wird unweigerlich auch Entukrainisierung bedeuten", so Medwedew.

Quellen: DPA, AFP, "Börsen-Zeitung", Neue Zürcher Zeitung, "Tagesspiegel", "Handelsblatt", "Tagblatt"