Flüchtlingsstreit in der EU Europa lässt Italien abblitzen

Wohin mit den Flüchtlingen aus Tunesien? Silvio Berlusconi fordert Hilfe von den Partnern - doch die weigern sich. Nun denkt Italien laut über einen EU-Austritt nach. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich bietet dem Italiener Paroli.

Da sind sie wieder - diese ewigen Fragen, die sich stellen, wenn mal wieder Flüchtlinge die Zugbrücke zur Festung Europa stürmen: Aufnehmen oder zurückschicken? Und wer kümmert sich um die Menschen - sollen sie im Ankunftsland bleiben oder auf das ganze EU-Gebiet verteilt werden? Sind die Tunesier, die derzeit zu Tausenden auf Lampedusa landen, Asylanten oder Wirtschaftsflüchtlinge? Macht es überhaupt einen Unterschied und wenn ja welchen? Sicher ist bislang: Zufriedenstellende Antworten wird es auch diesmal nicht geben - und doch sind sich fast alle EU-Vetreter in einem einig: dass Italien mit dem Migrantenstrom alleine fertig wird.

Das Mittelmeerland leidet seit Beginn der Unruhen in Nordafrika vor allem an seiner geografischen Lage. Auf dem kurz vor der tunesischen Küste gelegenen Inselchen Lampedusa sind bereits mehr als 26.000 Flüchtlinge angekommen, vor allem aus Tunesien. Weil die Lager mittlerweile hoffnungslos überfüllt sind, will Regierungschef Silvio Berlusconi die Staatengemeinschaft in die Pflicht nehmen. Sein Plan sieht vor, Aufenthaltspapiere an die Migranten auszugeben, mit denen sie auch in andere EU-Länder reisen können. Seine Idee dahinter: Entweder ihr, also vor allem Frankreich und Deutschland, helft uns bei der Versorgung der illegalen Flüchtlinge, oder wir lassen sie einfach zu euch weiterziehen.

Staubsaugereffekt auf alle Migranten

Doch die EU-Innenminister wenden sich von der Regierung in Rom ab: Kaum ein Vertreter zeigte sich bei ihrem Treffen in Luxemburg solidarisch mit Italien. Der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) stellte klar, mit den bisher angekommenen Flüchtlingen komme Italien schon noch zurecht. Seine Kollegin aus Österreich, Maria Fekter, sprach vor einer "unsolidarischen Maßnahme", die zum Kollaps des grenzfreien Schengen-Raums führen könnte: "Das hat einen enormen Staubsaugereffekt auf alle Migranten, die nach Italien gelangen."

Noch aber hat das italienische Innenministerium keine der umstrittenen Sonderpapiere vergeben. Die Visa im Kreditkartenformat befänden sich noch in der Fertigung, sagte ein Sprecher der Nachrichtenagentur DPA. Weil es im Schengen-Raum keine Grenzkontrollen mehr gibt, befürchtet vor allem Frankreich einen Flüchtlingszustrom - die meisten Migranten aus Nordafrika sprechen Französisch oder haben schon Verwandte oder Freunde in dem Land.

Friedrich warnte Italien davor, Signale an die Länder Nordafrikas zu senden, wonach die Grenzen nach Europa offen seien. Ein solches Vorgehen sei nicht akzeptabel, sagte Friedrich am Montagabend den ARD-"Tagesthemen". Deutschland nehme Menschen auf, die "wirklich schutzbedürftig" seien, so der Minister mit Blick auf Flüchtlinge in Malta. Von den mehr als 20.000 Menschen, die aus Nordafrika nach Italien gekommen seien, hätten aber bisher nur 2000 Asyl beantragt. Die anderen seien offenbar Wirtschaftsflüchtlinge, die versuchten, möglichst schnell in andere europäische Länder zu kommen.

Arbeitsmigranten auf der Durchreise

Auch Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) kritisierte die Haltung Italiens. Er sagte der Oldenburger "Nordwest-Zeitung": "Da handelt es sich zu 90 Prozent um Arbeitsmigranten, das heißt Illegale, die über Schleuserkriminalität von Tunesien nach Italien gebracht werden und dafür bis zu 1500 Euro zahlen." Das dürfe nicht akzeptiert werden. "Die Haltung von Italien ist in der EU einmütig missbilligt worden." Italien hatte angekündigt, tunesischen Flüchtlingen befristete Aufenthaltsgenehmigungen geben zu wollen, mit denen sie in andere EU-Staaten reisen können.

Schünemann sieht allerdings keine Möglichkeit zu verstärkten Grenzkontrollen, wie sie einige Länder gefordert hatten. "Das Abkommen von Schengen kann man nicht so einfach auflösen. Das müsste schon eine Notsituation sein." Die Polizei sei angewiesen, bei normalen Kontrollen genauer auf mögliche Flüchtlinge zu achten. Schünemann forderte, den Einsatz der EU-Grenzpolizei Frontex vor der tunesischen Küsten auszuweiten. "Das heißt, es muss sehr viel mehr kontrolliert werden. Meine klare Forderung: Wir müssen Tunesien in die Lage versetzen, Schleuserkriminalität vor Ort zu bekämpfen."

Von einer Massenflucht kann nicht die Rede sein

Nach Angaben von EU-Diplomaten gibt es im Rat praktisch keine Unterstützung für die Linie Roms. Von einer Massenflucht nordafrikanischer Flüchtlinge nach Europa kann nach ihrer Einschätzung bislang keine Rede sein. Somit gebe es noch keinen Anlass, eine europäische Richtlinie zu aktivieren, um Flüchtlinge auf andere europäische Länder zu verteilen. Die Partner fürchten vor allem, dass das System falsche Anreize setzt und mehr illegale Immigranten nach Europa lockt. "Wir hoffen, dass die Italiener ihre Aufgaben erfüllen in dem Zusammenhang", so Friedrich, der auch ankündigte, mit verschärften Grenzkontrollen die Einwanderung der nordafrikanischen Migranten eindämmen zu wollen.

Im Gegensatz zu Bürgerkriegsflüchtlingen aus Libyen, genießen Tunesier keinen Schutz in Italien. Den gültigen Regeln zufolge muss das Land einen Flüchtling versorgen, in dem dieser die EU erreicht. Die südlichen Länder wie Italien, Malta oder Griechenland sind aufgrund ihrer Lage besonders betroffen. Zu Zeiten des Balkankriegs, Anfang der 1990er Jahre, lag die Zahl der Flüchtlinge allerdings deutlich höher. In Deutschland etwa wurden bis zu 15 Mal mehr Asylanträge gestellt als heute.

Friedrich will italienische Visa nicht anerkennen

Die Ankündigung, befristete Aufenthaltsgenehmigungen auszustellen, steht jedem Mitgliedsland frei - allerdings will Innenminister Friedrich die Visa nicht anerkennen. Um den Streit zu entschärfen, will die EU-Kommission mit Tunesien nun die Rücknahme der Flüchtlinge vereinbaren. Zu diesem Zweck reist Kommissionspräsident José Manuel Barroso am Dienstag nach Tunesien. Für Italien verständigten sich die EU-Vertreter auf mehr Unterstützung durch Grenzschützer und Geld aus EU-Fonds.

Malta dagegen soll in der gleichen Angelegenheit geholfen werden. Einige EU-Länder wie etwa Deutschland, Ungarn, Belgien, Schweden und Tschechien wollen die nordafrikanischen Bürgerkriegsflüchtlinge aufnehmen. Die deutsche Regierung rechnet mit rund 100 nordafrikanischen Bürgerkriegsflüchtlingen. "Wir bitten um Solidarität für Malta, weil Malta ein sehr kleines Land ist", sagte EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström. Silvio Berlusconi wird diesen Satz mit Interesse zur Kenntnis genommen haben. Die europäische Solidarität jedenfalls wird mit diesem Streit erneut auf eine harte Probe gestellt. Italien droht deswegen schon unverhohlen mit dem Austritt aus der Gemeinschaft. "Ich frage mich, ob es wirklich Sinn macht, weiterzumachen mit der Teilnahme an der EU", sagte Italiens Innenminister Roberto Maroni.

Reuters
nik mit DPA/Reuters/AFP