Interview "Amerika braucht immer einen Feind"

Der französische Historiker Emanuel Todd, mit seinem jüngsten Werk, "Weltmacht USA - Ein Nachruf", in Deutschland auf der Bestsellerliste, über den Anfang einer neuen Unabhängigkeit Europas, Amerikas Interesse an Kriegen und den Niedergang der USA.

Worum geht es beim G-8-Gipfel in Evian eigentlich?

Das wüsste ich auch gern. Vermutlich werden alle wieder um den heißen Brei herumreden und anschließend in die Kameras lächeln. Das Hauptproblem, vor dem die Welt steht, kommt sicher wieder nicht zur Sprache.

Wir hatten den Eindruck, das Hauptproblem sei der Ort, an dem Präsident George W. Bush übernachtet.

Witzigerweise weiß Bush gar nicht, worauf er sich einließ, als seine Leute ankündigten, er werde nicht in Frankreich absteigen, sondern in der Schweiz. Zum ersten Mal lieben nämlich die Französisch sprechenden Schweizer Frankreich und die Deutsch sprechenden Deutschland – wegen der vehementen Opposition beider Länder gegen den Irak-Krieg. Bush hat noch nicht gemerkt, dass er in der Schweiz genauso gehasst wird wie in Frankreich.

Vielleicht sollte er in Deutschland absteigen, die deutsche Regierung versucht ja gerade, den kurzen Frühling der Zivilcourage vergessen zu machen und sich bei den Amerikanern wieder einzuschmeicheln.

Für Frankreich ist es ja auch leicht, den Widerpart gegen die USA zu spielen, das ist business as usual. Frankreich ist wirtschaftlich auch nicht von so herausragender Bedeutung. Aber Deutschland und Japan – die beiden wichtigsten Exportnationen – waren auch die wichtigsten Stützpfeiler amerikanischer Vormacht. Da hat sich ein dramatischer Wechsel vollzogen. Und die USA wissen nur zu gut, worauf es jetzt ankommt: den Konflikt mit Frankreich schwelen zu lassen, aber über die Differenzen mit Deutschland geflissentlich hinwegzusehen. Für die Amerikaner ist Deutschland wichtig, wegen seiner Wirtschaftskraft und als Standort für die US-Streitkräfte.

Aber wollen die USA ihre Truppen nicht verlegen, nach Polen, Ungarn, Bulgarien...?

Das ist doch nur Gezeter. Wenn ich richtig informiert bin, tragen die Deutschen einen Gutteil der Stationierungskosten. Und glauben Sie vielleicht, dass die USA bestens ausgebaute Basen aufgeben, um auf ein paar heruntergekommene Fußballplätze in Rumänien umzuziehen?

Also ist es vergebliche Liebesmüh’, dass sich die Deutschen jetzt den USA an die Brust werfen?

Jeder versucht im Moment, den Konflikt wieder herunterzuspielen.

War die Achse Paris-Berlin-Moskau nur ein vorübergehendes Phänomen?

Das ist eine Frage der Tagespolitik. Mich bewegt ein viel grundlegenderes Thema. Amerika ist viel schwächer, als es den Anschein hat. In meinem Buch beschäftige ich mich mit dem industriellen Niedergang der Weltmacht. Ich glaube, dass die Amerikaner Angst haben vor der wirtschaftlichen Stärke Europas, gerade auch angesichts der Ausweitung der EU nach Osten. Die Europäer sind wirtschaftlich sehr aktiv. Der Euro ist eine ernste Bedrohung für den Dollar. Ich bin optimistisch, dass die gemeinsame Loslösung Deutschlands und Frankreichs von den USA in der Irakfrage den Anfang einer neuen Unabhängigkeit Europas markiert.

Auch den Beginn einer militärischen Unabhängigkeit?

Europa hat erst einmal genug damit zu tun, die Erweiterung der EU zu bewältigen, eine gemeinsame Verfassung zu diskutieren. Europa hat es nicht nötig, nach außen eine aggressive Politik zu betreiben. Wenn eine neue Krise kommt, wird sie von den Vereinigten Staaten ausgehen. Europa hat kein Interesse an Kriegen.

Und weshalb sollten die USA ein Interesse an Kriegen haben?

Die Amerikaner haben ein Grundproblem, auf dem viele meiner Überlegungen und Voraussagen aufbauen. Seit den siebziger Jahren importieren sie mehr Waren, als sie exportieren. Das Handelsbilanz-Defizit betrug 1991 rund 75 Milliarden Dollar. Inzwischen ist es auf die Riesensumme von fast 500 Milliarden Dollar pro Jahr gewachsen. Gleichzeitig geht die Industrieproduktion zurück. Der Kurs des Dollars fällt, und wir wissen nicht, wie weit er noch fallen wird. Bisher dachte die ganze Welt, Amerika sei ein solider Wirtschaftsstandort, ein sicherer Hafen für Investitionen. Das ist nun in Frage gestellt.

Trotz Krise ist die Arbeitslosenquote in den USA heute geringer als in allen europäischen Ländern.

Aber was produzieren die Beschäftigten? In der Sowjetunion war die Arbeitslosenquote auch sehr niedrig – bis zum Zusammenbruch.

Unterschätzen Sie nicht die Dynamik der US-Wirtschaft? In den achtziger Jahren erschauerte die Welt angesichts des ungeheuren Haushaltsdefizits der USA, zehn Jahre später war es mehr als ausgeglichen.

Diese Loblieder auf die industrielle Power und Dynamik kann ich auswendig singen. Dabei hatte die Erholung der USA zwei simple Gründe: Erstens der Zusammenbruch der Sowjetunion.

Niedergerüstet von Reagan und Bush senior.

Auch das ist so ein Märchen. Ich habe den Zusammenbruch 1976 vorausgesagt, und zwar an Hand demografischer Daten, nämlich der Säuglingssterblichkeits- und der Geburtenrate. Das Sowjetreich wäre so oder so zusammengebrochen. Aber als es dann so weit war, und das ist der zweite Grund für das Wirtschaftswunder der neunziger Jahre, befand sich Amerikas Kapitalismus im Reifezustand. Auf der Welt herrschte endlich freier Kapitalfluss – und alles strömte in die USA, den sicheren Hafen. Elektronische Revolution, Internet? Lächerlich, die haben einfach eine gigantische Menge Geld gekriegt. Das gab einen Boom wie im 16. und 17. Jahrhundert mit dem Gold der Neuen Welt in Spanien.

Oder wie im alten Rom?

Nicht ganz. Anders als das Imperium Romanum treiben die USA nicht mit Gewalt Tribute aus irgendwelchen Kolonien ein, sondern sie profitieren von einem freiwilligen Beitrag der wohlhabenden Schichten rund um den Globus, die ihr Geld in Amerika anlegen. Aber die begreifen langsam, dass ihr Geld dort nicht sicher ist. Sie investieren nicht, sondern finanzieren den übermäßigen Konsum der Amerikaner. Anders als die Globalisierungsgegner sehe ich neben dem Gegensatz zwischen jungen armen und alten reichen Nationen hier den großen Konflikt zwischen Oberschichten – in Amerika und dem Rest der Welt.

In Ihrem Buch sprechen Sie vom drohenden Zusammenbruch des amerikanischen Systems.

Vielleicht ist Zusammenbruch ein zu starkes Wort. Ein Rückgang des Lebensstandards um 15 bis 25 Prozent ist wahrscheinlich. Aber das genügt, dass die Hyperpower Amerika den Nimbus ihrer Überlegenheit verliert.

Wie kommt es, dass die USA trotz aller Kritik für junge, gut ausgebildete Menschen so attraktiv sind? Oder warum wollen Wissenschaftler, Künstler, Manager am liebsten in den USA arbeiten?

Man kann das auch anders sehen. In Frankreich, Deutschland oder Großbritannien sind die Mittelschichten fähig, ihren eigenen Nachwuchs hervorzubringen. Die USA brauchen Zustrom von außen. Und es sind viele, die kommen müssen, damit das System weiter funktioniert.

Hören Sie keine Nachrichten? Europa steckt in der Krise, Deutschland im Reformstau. Wir müssen von Amerika lernen. Für Wirtschaftsexperten ist es das leuchtende Beispiel.

Das ist sein Image. Amerika galt immer als das Land der Erneuerung – doch jetzt muss es beweisen, ob dieser Mythos noch mit der Realität übereinstimmt. Jetzt haben die USA ein Problem mit ihrer Produktionskapazität. Warten wir mal ab, ob sie das in den Griff bekommen. Statt in ihre schwache industrielle Basis zu investieren, stecken sie alles Geld in einen rasend teuren Militärapparat.

Auch das kann die Wirtschaft ankurbeln.

Für mich ist das nur ein Zeichen dafür, dass Amerika Streit sucht. Es hat sich so sehr auf das Militärische spezialisiert, auf die Rolle des Weltpolizisten – immer braucht es einen Feind. Es nährt regelrecht neue Konflikte. Europa braucht das genaue Gegenteil, nämlich Frieden, und jedes Mal, wenn sich die Europäer für friedliche Lösungen einsetzten, schaden sie den Amerikanern.

Die aber sind im Irak-Konflikt die Sieger.

Aber was heißt das? Der Irak-Krieg war weltpolitisch gar nicht so wichtig, eine kleine koloniale Operation. Ein mikro-militärisches Theater in einem Land, das darniederlag, um von den wahren Problemen der USA abzulenken. Sie sind immer noch in dem unglaublichen Spiel gefangen, dass sie Stärke zeigen müssen, obwohl sie ökonomisch nicht dazu in der Lage sind. Ihre letzte große Ressource ist das Militär. Dementsprechend haben sie den militärischen Sieg im Irak mit Tamtam gefeiert, sind aber unfähig, das Land wieder aufzubauen. Ihnen fehlen schlicht und einfach die Mittel.

Aber die Amerikaner haben das Sagen.

Das Sagen worüber? Täglich hören wir neue Nachrichten über das Chaos, das sie nicht in den Griff kriegen. Sie haben nichts unter Kontrolle. Sie wollen die UN raushalten, aber sie haben nicht die Mittel, etwas aufzubauen.

Macht Europa alles besser?

Jedenfalls besitzen wir mehr Erfahrung mit der Bewältigung von Krisen – Reformation, Dreißigjähriger Krieg, Nazis. Die USA sind eine Erfolgsstory von Anfang an, sie standen nie vor der Prüfung, so schwere Krisen zu bewältigen.

Doch das "mikro-militärische Theater", wie Sie das nennen, hat immerhin Italien, Spanien und einige osteuropäische Lander herausgelöst aus dem EU-Konsens. Das ist doch ein Novum. Alle sprechen vom alten und neuen Europa.

Aber die EU-Erweiterung schreitet voran, zehn neue Länder kommen dazu. Die Vereinigung ist ein unausweichlicher Prozess. Und was haben Spanien und Italien schon groß für die USA gemacht? Nichts. Sie haben keinen einzigen Soldaten geschickt, Berlusconi verschwand mitten in der Aufführung von der Bühne.

Die Polen bauen jetzt mit den USA den Irak auf. Innerhalb der EU zeigen sich neue Interessengegensätze.

Die Polen haben es auch schwer: Plötzlich ist der Nachbar Deutschland eng verbandelt mit den Russen, deren Knute sie gerade erst entronnen sind. Ich verstehe, dass dies die Polen total verwirrt hat. Sie können ruhig Amerikas beste Freunde sein und dennoch voll in die EU integriert und zur Wirtschaftskraft Europas beitragen. Polen setzt im Handel mit zwölf Ländern Europas 15 Mal so viel um wie mit den Vereinigten Staaten. Übrigens liegt der Faktor selbst im Außenhandel Großbritanniens bei 3,5.

In Ihrem Buch schreiben Sie, wenn der Finanzplatz London sich der Euro-Zone anschließt, wäre dies ein Albtraum für Amerika.

Allerdings, das macht auch den enormen Druck verständlich, unter dem Tony Blair bei seinem Spagat steht. Okay, er hat den Amerikaner die Treue gehalten und Truppen in den Irak geschickt. Aber er kann historisch gesehen einen viel wichtigeren Schritt machen, wenn er sein Land in die Gemeinschaftswährung führt. Das würde das Kräfteverhältnis eindeutig zugunsten Europas verändern, vielleicht die Vormachtstellung Amerikas zunichte machen.

Warum haben Sie sich dafür ausgesprochen, dass die UN ihr Hauptquartier aus den USA abziehen sollten?

Alle sind ja derzeit pessimistisch, aber ich bin optimistisch, auch was die UN betrifft. Klar, der Irak mit seinem Despoten Saddam war ein Problem. Aber wenn Sie wie ich denken, dass Amerika ein größeres Problem als Saddam darstellt, dann wissen sie, dass die Vereinten Nationen sehr effizient darin waren, dies der Welt in der Irak-Krise vor Augen zu führen.

Zur Person

Der Historiker Emanuel Todd, 52, arbeitet am französischen Nationalinstitut für demographische Studien. 1976 sagte er in seinem Buch "La chute finale" den Zusammenbruch des Sowjetsystems voraus. Sein jüngstes Werk, "Weltmacht USA – Ein Nachruf" (Piper Verlag, 13 Euro), steht in Deutschland mit mehr als 100 000 verkauften Exemplaren seit Wochen auf der Bestsellerliste. Es wurde in 20 Sprachen übersetzt. Demnächst erscheint es auch in den Amerika.

Inwiefern?

Als Powell seine Dia-Show zeigte, offenbarte sich doch das ganze Theater in all seiner köstlichen Absurdität. Nichts enthüllt den Orwellschen Charakter der USA klarer als dieser Powell-Auftritt im Weltsicherheitsrat, diesem Bluff, nach dem sich doch jeder vernünftige Mensch sagen muss: Okay, wenn die Amerikaner ohne Zustimmung der UN handeln, dann gibt es auch keinen Grund mehr, warum deren Hauptquartier in New York bleiben sollte, verlegen wir es doch in die Schweiz oder nach Stockholm. Das würde das überhitzte Temperament der Amerikaner vielleicht etwas abkühlen. Sie brauchen die Welt und werden irgendwann einsehen müssen, dass sie sich eher an der Peripherie befinden.

Sie setzen keine sehr großen Hoffnungen in den Gipfel von Evian. Was wäre denn ihrer Meinung nach zu tun?

Deutschland, Frankreich und Italien, die drei größten Wirtschaftsmächte Europas, sollten nach dem G-8-Gipfel ein europäisches G-3-Treffen abhalten und finanzpolitische Maßnahmen beschließen, um dem globalen Nachfragemangel entgegenzuwirken.

Braucht Europa auch einen gemeinsamen Außenminister?

Joschka Fischer wäre wunderbar.

Interview: Peter Meroth und Tilman Müller

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