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Kalifat unter Druck Der Islamische Staat zerfällt - die Gefahr bleibt

Im Juni 2014 rief der IS das Kalifat aus. Damals kontrollierten die Dschihadisten große Gebiete in Syrien und im Irak. Mittlerweile hat der Islamische Staat viel Land wieder verloren. Das Ende des Kalifats naht, aber nicht das Ende der Gefahr.

Der sogenannte Islamische Staat gerät immer mehr in Bedrängnis und steht vor dem Zerfall. Wichtige Teile ihres Herrschaftsbereiches in Syrien und im Irak haben die Terroristen wieder verloren, seit ihr damaliger Propagandachef Abu Mohammed al-Adnani im Juni 2014 vom frisch eroberten Mossul aus das Kalifat ausrief. Im Irak wurden im April 2015 Tikrit, im Dezember Ramadi und im Juni 2016 Falludja aus der Gewalt der Dschihadisten befreit. Mossul wird gerade von der irakischen Armee, kurdischen Peschmerga-Kämpfern und schiitischen Milizen angegriffen, erste Randgebiete hat die Allianz bereits unter ihre Kontrolle gebracht. Laut der Global Coalition against Daesh hat der IS mittlerweile 56 Prozent der irakischen Gebiete verloren, die er noch im August 2014 kontrollierte. Sollte das strategisch bedeutsame Mossul vollständig zurückerobert werden, wäre er im Irak militärisch weitgehend besiegt.

Im Nachbarland Syrien sieht es für die Dschihadisten nicht viel besser aus: Die Großoffensive auf ihre inoffizielle Hauptstadt Al-Rakka ist angelaufen. Angeführt von der Kurdenmiliz YPG, dem wichtigsten Verbündeten der US-geführten internationalen Anit-IS-Koalition, haben die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) nach eigenen Angaben 30.000 Kämpfer für die Rückeroberung der Stadt mobilisiert. In Syrien hat der Islamische Staat der Global Coalition zufolge seit August 2014 27 Prozent seines Herrschaftsbereiches eingebüßt, darunter Mitte Oktober das symbolisch wichtige Dabiq. An dem Ort nördlich von Aleppo wird nach islamischer Überlieferung die Entscheidungsschlacht zwischen den Muslimen und ihren Feinden stattfinden. Sie soll das Ende der Welt einleiten und den finalen Sieg des Islam.

Terror-Anleitungen statt Kalifat-Werbung

Der symbolische Wert von Dabiq ist für die Terroristen so groß, dass sie sogar ihr wichtigstes Propaganda-Magazin danach benannt haben. Und so wie der Ort steht auch die Zeitschrift für den Niedergang des Kalifats. 15 "Dabiq"-Ausgaben sind seit dem Start des Hochglanzblattes im Juli 2014 erschienen, etwa alle zwei Monate eine. Doch seit Juli dieses Jahres ist plötzlich Schluss. Stattdessen tauchte das neue IS-Magazin "Rumiyah" auf. Es ist wesentlich kürzer als sein durchschnittlich 60-seitiger Vorgänger und mit deutlich weniger Aufwand hergestellt.

Vor allem aber unterscheidet sich die nach der Stadt Rom benannte Zeitschrift inhaltlich von "Dabiq": Während das ursprüngliche IS-Sprachrohr - neben dem Verbreiten von Hassbotschaften, Horrorbildern und Kriegspropaganda - noch um Auswanderer in die besetzten Gebiete warb und über das Gesundheitswesen, Altenheime, die Kinderziehung oder die Bestrafung von Kriminellen im Kalifat informierte, und dadurch versuchte, den Eindruck eines funktionierenden Staatswesens zu vermitteln, geht es in "Rumiyah" vorrangig um Attentate auf "Ungläubige" im Westen. Statt neuer Kalifat-Bürger will die IS-Medienabteilung jetzt nur noch sogenannte einsame Wölfe rekrutieren, die in ihren Heimatländern Anschläge verüben sollen. Um welche Länder es dabei geht, zeigt die Bandbreite der Sprachen, in der die Publikation veröffentlicht wird: Englisch, Deutsch, Französisch, Russisch, Türkisch und Indonesisch.

Abschied von der Utopie eines Nationalstaates

Noch ist unklar, ob "Rumiyah", von dem seit September zwei Ausgaben erschienen sind, "Dabiq" nur ergänzen oder ersetzen soll. Der zweite Fall scheint nach der ungewöhnlich langen Publikationspause von "Dabiq" wahrscheinlicher. Offenkundig ist aber, dass sich die Propagandamaschinerie des Islamischen Staates von der Utopie eines Kalifats mehr und mehr verabschiedet und ihre Produktivität stark zurückgeht. So veröffentlichten die verschiedenen "offiziellen" Medienkanäle des IS nach Angaben von "Vice News" im August 2015 insgesamt 761 Fotos und Videos. Ein Jahr später seien es nur noch 194 gewesen, berichtete die Nachrichtenseite unter Berufung auf eine Studie des Combating Terrorism Centers (CTC) der US-Militärakademie West Point. Die Studie bestätigt zudem, dass sich nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität der Publikationen verändert hat. Während in Hochzeiten auch Themen wie Regierungswesen, Handel und Religion eine Rolle gespielt hätten, gehe es in den neueren Inhalten vor allem um Krieg und Gewalt, heißt es. Experten werten dies als Signal dafür, dass der IS an Stärke verliert. "Das Kalifat wird in vielerlei Hinsicht schwächer und steht ernsthaft unter Druck", zitiert "Vice News" den Autor der CTC-Studie, Dan Milton. "Dieser Druck und schwindende Ressourcen haben die Fähigkeit eingeschränkt, so zu regieren, wie sie gerne regieren möchten."

Auch Mara Revkin, Expertin für islamische Rechtssysteme und die Regierungsführung militanter Gruppen an der Yale-Universität sieht das Kalifat bröckeln: Die "Staatlichkeit ist essentiell für die Marke IS", sagte sie "Vice News". "Aber da der IS sich auf den Verlust von Mossul vorbereitet, stellt sich die Frage, ob diese Marke für potentielle Rekruten und Geldgeber attraktiv bleibt, nun, wo die Gruppe es nicht mehr schafft, ihrem Slogan 'bleibend und expandierend' gerecht zu werden."

Kaum noch Ausreisen ins Kalifat

Was Deutschland betrifft, kann diese Frage eindeutig mit nein beantwortet werden. Denn mittlerweile zieht es nur noch sehr wenige IS-Anhänger aus der Bundesrepublik in die Kampfgebiete der Terrormiliz. Die Ausreisen von Islamisten seien zuletzt "nahezu zum Erliegen gekommen", zitierten "Süddeutsche Zeitung", NDR und WDR vergangene Woche eine gemeinsame Studie von Bundesverfassungsschutz und Polizei. Nach der Gründung des Kalifats Mitte 2014 seien zu Spitzenzeiten allein aus Deutschland monatlich fast hundert Menschen in die Region gereist. Zwischen Juli 2015 und Juni 2016 seien es dann nur noch "durchschnittlich weniger als fünf Ausreisen pro Monat" gewesen. Das Kalifat entfalte "kaum mehr eine Sogwirkung", schrieben die Experten dem Bericht zufolge und nannten als mögliche Gründe unter anderem den wachsenden militärischen Druck auf den IS sowie die von "Gewalt und Brutalität gekennzeichneten Lebensbedingungen" im Kalifat.

Dabei braucht der Islamische Staat dringend neue Kämpfer. Zahlenmäßig sind die Islamisten ihren Gegnern weit unterlegen. Allein in Mossul stehen fast 100.000 Mitglieder der Anit-IS-Allianz etwa 5000 bis 7000 Dschihadisten gegenüber. Und deren Moral scheint zu leiden. Anfang November ließ der IS nach UN-Angaben 50 seiner eigenen Kämpfer in der Region hinrichten, weil diese desertieren wollten. IS-Kämpfer sollen zudem mit Lautsprecherwagen durch die Straßen gefahren sein und die Menschen in Mossul gewarnt haben: Wer desertiere, werde getötet.

Terrormiliz schickt vermehrt Kinder in den Kampf

Bereits vor Monaten meldeten die USA einen Anstieg der Deserteurszahlen beim IS. "Immer mehr" Kämpfer verließen den Islamischen Staat, erklärte Außenamtssprecher John Kirby im März. Daher setze die Miliz zunehmend auf Minderjährige. Zuvor seien Kinder vor allem zur Beschaffung von Informationen und für Selbstmordattentate benutzt worden, was der IS auch nach wie vor tue. "Jetzt bekommen wir aber immer mehr Berichte darüber, dass sie Kinder bei richtigen Kampfhandlungen an der Seite von erwachsenen Kämpfern einsetzen", erklärte Kirby. All dies seien Anzeichen für Probleme der Terroristen, Mitglieder zu rekrutieren und zu halten.

IS-Anführer Abu Bakr al-Bagdadi ist sich dieses Problems offenbar bewusst. Nach einem Jahr meldete er sich Anfang November erstmals wieder mit einer Audiobotschaft zu Wort und verbreitete Durchhalteparolen. In der Aufnahme befiehlt eine Stimme, die al-Bagdadi gehören soll, den Milizionären in Mossul: "Zieht euch nicht zurück! Mit Ehre standzuhalten ist tausend Mal einfacher als ein Rückzug in Schande. Hütet Euch vor jeglicher Schwäche im Angesicht des Feindes!"

Islamischer Staat leidet unter Führungskräftemangel

Neben dem Mangel an Kämpfern leidet der Islamische Staat aber auch unter schwindendem Führungspersonal. Seit Anfang des Jahres verloren die Extremisten zahlreiche hohe Anführer. Der größte Verlust für die Islamisten war der Tod von Abu Mohammed al-Adnani am 30. August. Der Verkünder des Kalifats und zweitwichtigste Mann der Terrorgruppe wurde bei einem Luftangriff in der Nähe Aleppos getötet. Sein Nachfolger, Wa'il Adil Hasan Salman al-Fajad, überlebte ihn nur um wenige Tage. Der neue "Informationsminister" starb am 7. September bei einem Luftangriff in der Nähe von Rakka.

"Fast alle, die Rang und Namen hatten, wurden getötet", kommentierte der Terror-Experte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, Guido Steinberg, die Situation der Extremisten. "Die Nachrücker haben nicht mehr das Format. Es herrscht offensichtlich ein Personalmangel."

Islamisten setzen auf "einsame Wölfe"

Angesichts der wachsenden Probleme des IS gehen Experten mittlerweile davon aus, dass die Terrormiliz in nicht allzu ferner Zukunft in Syrien und im Irak militärisch besiegt werden kann. Unschädlich gemacht wäre sie damit aber noch lange nicht, denn die letzten Monate haben gezeigt: Je mehr der IS an Boden verliert, desto stärker setzt er auf Terroranschläge im Westen.

Eine große Gefahr dabei sind scheinbare Einzeltäter, die zwar alleine zuschlagen oder Attentate vorbereiten, dabei aber Anweisungen befolgen. Solche "einsamen Wölfe" waren auch die Attentäter von Ansbach und Würzburg. Der eine sprengte sich auf einem Platz vor einem Musikfestival in die Luft, der andere ging mit Axt und Messer in einer Regionalbahn auf Fahrgäste los. Beide verletzten mehrere Menschen. Und beide hatten zuvor wohl über Chats Instruktionen und "Ratschläge" von IS-Leuten bekommen.

"Diese Attentäter werden virtuell aus dem Ausland über Instant Messaging ferngesteuert", warnte Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen im September. Das sei eine besondere Herausforderung, die seiner Behörde Sorge bereite. Im Klartext bedeutet das: Für das Dirigieren "einsamer Wölfe" braucht es kein Kalifat, sondern nur einen Computer. Und wir alle sind ihr Ziel.

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