Beate Zschäpe redet endlich. Diese Ankündigung wirkte wie ein Magnet. Schon in der Nacht wartete ein gutes Dutzend Zuschauer vor dem Gebäude des Oberlandesgerichts am Münchner Stiglmaierplatz. Am frühen Morgen erstreckte sich die Warteschlange über den gesamten Vorplatz. Vor Verhandlungsbeginn sind alle 100 Plätze für Zuschauer und Journalisten besetzt. Auch Angehörige von Mordopfern der mutmaßlichen NSU-Terroristen sind gekommen - in der Hoffnung, Zschäpe möge zur Wahrheit beitragen und so etwas wie Reue zeigen.
Ungewöhnlich an diesem 249. Verhandlungstag ist dann auch Zschäpes Verhalten, als sie aus dem Gefangenenzimmer in den Saal geführt wird. Erstmals dreht sie den Fotografen nicht den Rücken zu. Sie lächelt in die Kameras. Sie setzt sich auf ihren Platz und plaudert zunächst mit Hermann Borchert, einem ihrer beiden neuen Anwälte. Borchert, der bisher kein vom Staat bezahlter Pflichtverteidiger ist, ist überhaupt zum ersten Mal in der Verhandlung.
Zschäpe lässt reden
Aber nicht er ist es, der dann knapp zwei Stunden im Mittelpunkt steht, sondern sein junger Kollege Mathias Grasel. Bevor er mit der Verlesung von Zschäpes Aussage beginnt, steht er auf, läuft zu den Plätzen der Bundesanwaltschaft und reicht eine Kopie der schriftlichen Fassung. Auch das Gericht bekommt ein Exemplar. Dann ist es soweit - Zschäpe lässt reden und bricht erstmals ihr Schweigen. Eine Weile geht es um die Vorgeschichte - Kindheit, Schule, Jugend, Ausbildung zur Gärtnerin. Sie lässt erzählen, wie sie zunächst Uwe Mundlos und an ihrem 19. Geburtstag Uwe Böhnhardt kennenlernt, erst mit dem einen zusammen war und sich dann in den anderen verliebte. Von "nationalistischen" Liedern, die sie mit ihren Freunden "sang, beziehungsweise grölte". Wie sie dann nach und nach von den beiden Männern immer tiefer in ihre Welt hineingezogen worden sei, im Grunde gegen ihren Willen. Eine Garage in Jena als Versteck für Propagandamaterial und Sprengstoff habe sie etwa nur deshalb gemietet, weil Uwe Böhnhardt mit ihr Schluss gemacht habe und sie unbedingt wieder mit ihm zusammen sein wollte.
Auch im Untergrund sei sie eher gegen ihren Willen gelandet. Gegen Böhnhardt habe die Polizei einen Durchsuchungsbefehl gehabt. Der habe sich auch auf die Garage erstreckt, was die drei gewundert habe. "Wir beschlossen, das Ganze erstmal aus der Ferne zu beobachten".
"Ich bin regelrecht ausgeflippt"
Gesinnungsgenossen in Chemnitz hätten sie aufgenommen. Dann habe es aber im Fernsehen einen großen Bericht mit Fahndungsaufruf gegeben. Mundlos und Böhnhardt hätten ohne ihr Wissen einen Supermarkt überfallen und zu ihren Entsetzen eine scharfe Waffe dabeigehabt. Es folgten die nächsten Überfälle. Sie habe immer tiefer dringesteckt, eine Gefängnisstrafe gefürchtet und keinen Weg zurück gesehen.
Von dem ersten Mord der beiden Uwes will sie gar monatelang nichts mitbekommen haben. Der war am 9. September des Jahres 2000. Opfer war der Blumenhändler Enver Simsek in Nürnberg. Zwei seiner Angehörigen sitzen im Gericht, als Grasel liest, Zschäpe habe erst zu Weihnachten davon erfahren. "Erst jetzt erfuhr ich, was drei Monate zuvor passiert war." Sie sei "regelrecht ausgeflippt". Nichts habe sie vorher gewusst und sie habe den beiden das Versprechen abgenommen, dass so etwas nicht noch einmal passiert. Passiert ist es aber, und bekanntlich nicht nur einmal. Bei jedem der insgesamt zehn Morde sagt Zschäpe: Sie habe vorher nichts gewusst, auch nicht von den beiden Bombenanschlägen in Köln. Nur von Banküberfällen hätten die Uwes manchmal etwas erzählt. Über die Morde habe sie immer nur im Nachhinein erfahren. Einmal sollen die Uwes gleich vier Morde auf einen Schlag gebeichtet haben.
"Ich fühle mich moralisch schuldig"
Über die tödlichen Schüsse auf die Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn hätten sie gesagt, es sei nur um die Waffen der Polizistin und ihres Kollegen gegangen. Das klingt ähnlich bizarr wie die Aussage, manchmal habe Zschäpe Pistolen in der gemeinsamen Wohnung herumliegen sehen und ordentlich in den Schrank geräumt. Und schließlich, am Ende ihrer Aussage, endlich auch das: "Ich entschuldige mich aufrichtig bei allen Opfern und Angehörigen von Opfern." Und: "Ich fühle mich moralisch schuldig, dass ich zehn Morde und zwei Bombenanschläge nicht verhindern konnte."

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Einen Treffer hat sie damit aber offenbar nicht gelandet - jedenfalls nicht bei den Opfern, denn gleich darauf teilt Anwalt Grasel mit, dass Zschäpe deren Nachfragen nicht beantworten werde. Das sei "schon wieder ein Schlag ins Gesicht", sagt hinterher Gamze Kubasik, die Tochter des in Dortmund ermordeten Ismael Kubasik.
Scharfe Kritik kommt auch von den Anwälten der Opfer. "Ich habe ihr heute kein Wort geglaubt", sagt Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler. "Meine Mandantschaft wollte erfahren, warum ihre Väter, Ehemänner, Brüder sterben mussten. Davon hat Frau Zschäpe nichts gesagt." Und sein Kollege Stefan Lucas erklärt: "Wenn das alles ist, was Frau Zschäpe uns zu sagen hatte, dann hätte sie besser gar nichts gesagt".
Hintergrund & Chronologie: NSU
Die Neonazis Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe tauchen nach einer Razzia der Polizei in ihrer Bombenwerkstatt in Jena ab. Im selben Jahr gründet das Trio eine Terrorgruppe. Zwischen 2000 und 2007 erschoss die Gruppe dann nach Erkenntnissen der Ermittler zehn Menschen, neun davon ausländischer Herkunft. Mit Sprengstoffanschlägen sollen sie Dutzende verletzt haben.
Spätestens von 2001 an nannten sie sich "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU). Nach dem Tod ihrer Kumpane im November 2011 stellte sich Zschäpe der Polizei. Seit Mai 2013 wird in München gegen sie und mutmaßliche Unterstützer verhandelt.
Uwe Mundlos (1973 - 2011): Mundlos wuchs als Kind eines Mathematikers und späteren Informatik-Professors sowie einer Supermarktkassiererin in Jena auf.
Uwe Böhnhardt (1977 - 2011): Böhnhardt verbringt seine Kindheit ebenfalls in Jena, die Mutter ist Lehrerin, der Vater Ingenieur.
Beate Zschäpe (geb. 1975): Die ersten Jahre ihres Lebens verbringt sie zu großen Teilen bei den Großeltern in Jena und dem Stiefvater, weil ihre Mutter in Rumänien Zahnmedizin studiert.
Die drei lernen sich nach der Wende in ihrer Heimatstadt kennen. Zschäpe ist erst mit Mundlos, später mit Böhnhardt zusammen. Das Trio bleibt trotzdem zusammen und driftet im Laufe der 1990er Jahre zunehmend in die radikale rechtsextremistische Szene ab. Ab 1998 tauchen sie unter. Böhnhardt und Mundlos werden 2011 nach einem Banküberfall tot in einem Wohnmobil gefunden, Zschäpe stellt sich nach tagelanger Flucht der Polizei.
- 9. September 2000: Erstes NSU-Opfer wird der türkischstämmige Blumenhändler Enver S. (38) in Nürnberg. 19. Januar 2001: Sprengstoffanschlag des NSU auf ein Lebensmittelgeschäft in Köln. Eine 19-jährige Deutsch-Iranerin wird schwer verletzt.
- 13. Juni 2001: In Nürnberg wird der Schneider Abdurrahim Ö. (49) mit der Ceska erschossen.
- 27. Juni 2001: Der Gemüsehändler Süleyman T. (31) stirbt in Hamburg.
- 29. August 2001: In München wird der Händler Habil K. (38) erschossen.
- 25. Februar 2004: Der Imbiss-Verkäufer Yunus T. (25) wird in Rostock ermordet.
- 9. Juni 2004: Bei einem Bombenanschlag in der überwiegend von Türken bewohnten Kölner Keupstraße werden 22 Menschen verletzt.
- 9. Juni 2005: Der Imbissbuden-Besitzer Ismail Y. (50) wird in Nürnberg das sechste Opfer des NSU.
- 15. Juni 2005: In München wird Theodoros B. (41) erschossen.
- 4. April 2006: Der Kioskbetreiber Mehmet K. (39) stirbt in Dortmund.
- 6. April 2006: Halit Y. (21) wird in seinem Internet-Café erschossen. Weiterhin sehen die Ermittler keine Rechtsextremen hinter der Mordserie.
- 25. April 2007: Der zehnte NSU-Mord - die Polizistin Michèle K. (22) wird auf einem Parkplatz in Heilbronn erschossen.
Mundlos und Böhnhardt werden am 4. November 2011 nach einem gescheiterten Sparkassen-Überfall in Eisenach erschossen in einem Wohnmobil gefunden. Dabei entdecken Beamte die Dienstwaffe der ermordeten Polizistin K. Am selben Tag steckt Zschäpe die Zwickauer Wohnung des Trios in Brand. Nach der Wohnungsexplosion flüchtet sie und fährt fünf Tage kreuz und quer durch Nord- und Ostdeutschland, verbringt die Nächte im Zug und besucht den Ort, an dem ihre mutmaßlichen Komplizen starben - eine Irrfahrt. Im Anschluss stellt sie sich der Polizei.
Mit Holger G. wird am 13. November 2011 der erste von insgesamt fünf Männern festgenommen, die dem NSU geholfen haben sollen. Vier kommen im Frühjahr 2012 wieder frei - neben G. sind dies Andre E., Matthias D. und Carsten S. Der am 29. November 2011 festgenommene Ex-NPD-Funktionär Ralf Wohlleben bleibt hingegen bis heute in U-Haft.
Im Zuge der polizeilichen Ermittlungen und parlamentarischen Aufarbeitung der Terrorserie werden Fehler, Pannen und Ungereimtheiten zu Tage gefördert, darunter:
- Ein Referatsleiter des Bundesverfassungsschutz (BVS) hatte im November 2011 Akten über thüringische Rechte schreddern lassen. Ein Eklat, der BVS-Chef Heinz Fromm das Amt kostet
- Bereits früh erkannte Hinweise auf einen rechtsextremen Hintergrund der Morde wurden von den Ermittlern lange vernachlässigt
Im August 2013 legt der NSU-Untersuchungsauschuss des Bundestags seinen Abschlussbericht vor. Darin werden den Ermittlungsbehörden schwere Versäumnisse vorgeworfen.
Im Mai 2013 beginnt der Prozess gegen Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte vor dem Oberlandesgericht München. Insgesamt umfasst die Anklageschrift 488 Seiten, es gibt 80 Nebenkläger und 606 Zeugen. Zschäpe schweigt vom Prozessauftakt an konsequent. Das Verhältnis zu ihren Pflichtverteidigern Anja Sturm, Wolfgang Heer und Wolfgang Stahl verschlechtert sich mit der Zeit zunehmend. Mandantin und Pflichtverteidiger versuchen mehrmals vergeblich einander loszuwerden. Im November 2015 kommt Mathias Grasel als vierter Pflichtverteidiger hinzu und bestimmt seit dem die Taktik der Verteidigung.
Scheinbar war es Grasel, der Zschäpe nach zweieinhalb Jahren Prozessdauer dazu brachte, am 9. Dezember 2015 ihr Schweigen zu brechen und auszusagen: Zschäpe entschuldigte sich "aufrichtig" bei den Opfern, die Schuld an den Verbrechen wies sie jedoch von sich. Zudem bestritt sie, Mitglied des NSU gewesen zu sein.