Der Schritt war ungewöhnlich und ließ dementsprechend aufhorchen: Als sich nach den Landtagswahlen im vergangenen März die übliche "Berliner Runde" der Partei-Generalsekretäre zur Analyse versammelte, war da ein ungewohntes Gesicht. Die Grünen wurden - anders als sonst - durch ihre parlamentarische Geschäftsführerin Britta Haßelmann vertreten. Eigentlich hätte dort Michael Kellner sein müssen, doch der verzichtete zugunsten Haßelmanns, damit "nicht nur Männer am Wahlabend diskutieren", sagte er via Twitter zur Begründung. Nicht nur ZDF-Moderator Theo Koll wollte da gleich ein Muster erkennen: Wenn die Grünen so argumentieren, dann wird Annalena Baerbock logischerweise Kanzlerkandidatin.
Überinterpretiert? Vielleicht. Und natürlich ließ sich Haßelmann nichts entlocken. Doch eines lässt sich ja nicht leugnen: Dass Angela Merkel nicht wieder kandidiert, setzt die Grünen in der K-Frage durchaus unter Zugzwang - auch, wenn sie das nicht zugeben wollen. Die Union wird einen Mann nominieren, so viel steht fest, die Frauenrolle ist daher unbesetzt. Kann in dieser Situation ausgerechnet jene Partei, die die Doppelspitze erfunden hat, und die sich wie keine andere Gleichberechtigung, Integration und Inklusion auf die Fahnen geschrieben hat, dafür sorgen, dass Deutschlands Wähler:innen einmal mehr nur die Wahl unter Männern haben? Noch dazu bei der ersten Chance aufs Kanzleramt überhaupt?
Annalena Baerbock: Spielt sie die Frauenkarte, "dann hat sie's"
Das müssten die Grünen im Wahlkampf ganz sicher nicht nur einmal erklären. Ein hausgemachtes Glaubwürdigkeitsproblem; die Wahlkampfstrategen der Konkurrenz wetzten die Messer. Und sie könnten in der Frage einen Wirkungstreffer landen. Denn wie twitterte die Partei anlässlich der Haßelmann-Abordnung in die "Berliner Runde": "Im Jahr 2021 sollte Politik anders aussehen! 50 Prozent der Bevölkerung sollte auch 50 Prozent der Macht gehören." Und Michael Kellner ergänzte: Reine Männergruppen seien "ein Grundproblem des politischen Betriebs, für das wir Verantwortung haben und das wir verändern können."
Die Nominierung Baerbocks wäre ein Schritt in diese Richtung. Eine drängende Logik, der sich auch Robert Habeck nicht verschließen kann, wie er selbst auf offener Bühne bei "Anne Will" in der ARD sagte. "Wenn Annalena Baerbock als Frau sagen würde, ich mache es, weil ich eine Frau bin", so Habeck, "und die Frauen haben das erste Zugriffsrecht, dann hat sie's. Natürlich." Aber Baerbock sehe "die Größe des Amtes komplexer zusammengesetzt", schränkte Habeck ein. Soll wohl heißen: Annalena Baerbock wird nicht grüne Kanzlerkandidatin nur weil sie eine Frau ist, sondern weil sie die Fähigkeiten zur Regierungschefin hat.
"Sie hat den Mut, nach vorn zu gehen"
Dass die 40-Jährige das bisher noch nicht bewiesen hat, gilt als Hauptargument gegen sie. Habeck kennt aus Schleswig-Holstein dagegen sowohl die Rolle eines Spitzenkandidaten als auch die Arbeit als Minister und stellvertretender Ministerpräsident. Noch dazu in einer schwarz-grünen Regierung. Eine Konstellation, die derzeit auch im Bund ab Herbst als die wahrscheinlichste gilt.
Dafür hat die studierte Völkerrechtlerin Baerbock Habeck aber voraus, dass sie sich - zumindest bei den Grünen - bereits auf europäischem Parkett bewegt hat. Alles andere als unwesentlich, wenn man sich die Rolle Deutschlands in der EU vor Augen führt. "Es macht einen Riesenunterschied, ob man die europäische Politikebene mitgekriegt hat oder nicht", urteilt Reinhard Bütikofer, Grünen-Chef während der rot-grünen Regierungszeit und langjähriger Chef der Europa-Grünen, in einem Baerbock-Portrait im deutschen "Rolling Stone". Außerdem: In Brüssel soll Baerbock jene Fähigkeit gezeigt haben, die sie auch ohne bisheriges Regierungsamt für eine mögliche Kanzlerschaft qualifizieren könnte. "Sie wollte führen und hat in bestimmten Situationen den Mut gehabt, nach vorn zu gehen", erinnert sich die damalige Fraktionschefin der Europa-Grünen, Rebecca Harms, in dem Magazin an eine energische junge Politikerin.
Baerbock geht als Favoritin in die Aussprache
Dass Baerbock selbst sich das Kanzleramt zutraut "ist bekannt", stellte sie im stern-Interview einmal lakonisch fest. Dabei wischte sie auch alle Bedenken wegen ihrer fehlenden Regierungserfahrung so energisch beiseite wie es Rebecca Harms beschrieben hat: "Sicher ist es gut, schon 20 Jahre regiert zu haben. Aber jetzt geht's darum, die Zukunft zu bauen." Dazu passt ihre im "Rolling Stone" selbst formulierte Leitfrage: "Schaffen wir es, eine neue Epoche von Politik und Parlamentarismus einzuleiten, in der wir ein paar Dinge, die wir seit 50 Jahren mit uns herumschleppen, anders machen?" Damit meint sie nicht nur Gender- und Klima-Themen, sondern auch die politische Arbeit selbst. Eine Regierung könne durchaus Vorschläge der Opposition aufgreifen, wenn diese gut seien, so Baerbock.
Ihr energisches Auftreten hat Annalena Baerbock zur Favoritin für die erste Kanzlerkandidatur in der Geschichte der Grünen gemacht. Es lässt sich kaum bestreiten, dass die erklärte Verfechterin der europäischen Idee zuletzt in der Öffentlichkeit deutlich präsenter war als ihr Kollege Habeck. Das war bekanntlich nicht immer so. Es gab Zeiten, da trat der gebürtige Lübecker so strahlend und erhobenen Hauptes auf, dass er angesichts zwischenzeitlicher Spitzenwerte von bis zu 25 Prozent für seine Partei 2019 auch vom stern schon als der kommende Kanzler gefeiert wurde. Doch das ist lange her und von dieser Frische ist nicht erst seit dem entnervten Abschied des 52-Jährigen von Twitter kaum noch etwas zu spüren.
Robert Habeck - zuletzt oft die personifizierte Abwehrhaltung
In Talkshows, Interviews oder bei Statements aus der Berliner Parteizentrale sieht man in letzter Zeit häufig einen Robert Habeck, der nicht selten mit eingezogenem Kopf und mürrischer Mine von unten nach oben schaut. Bisweilen wirkt der (ehemalige) Schriftsteller dermaßen wie die personifizierte Abwehrhaltung, dass die "Zeit" in einem großen Portrait die Frage stellte: "Ist er noch er?" Demnach liegt der Grund für die spürbare Veränderung in einem PR-Desaster rund um Naturfotos mit Pferden auf seinem Instagram-Account und in den Reaktionen auf zwei sachliche Fehler. Einmal machte es den Eindruck, er wisse nicht, wie sich die Pendlerpauschale berechnet, ein anderes Mal, dass er glaube, die Bankenaufsicht Bafin sei für die Prüfung der Abrechnungen mittelständischer Unternehmen zuständig. Fauxpas, wie sie sich Baerbock bisher nicht geleistet hat. Kübelweise Häme, Beschimpfungen und Angriffe waren die Folge.
Habeck hat sich das, so lässt er in dem Portrait durchblicken, sehr zu Herzen genommen - und von da an in den Politiker-Modus geschaltet. Seine Äußerungen sind inzwischen häufig enorm verkopft und bemüht, so dass sie kaum eine Angriffsfläche bieten. Hätte er früher bei "Anne Will" vielleicht gesagt, Annalena Baerbock werde Kanzlerkandidatin natürlich nicht einfach weil sei eine Frau ist, sondern weil sie es kann, sagt er heute eben: "Annalena sieht die Größe des Amtes komplexer zusammengesetzt." Seine Leichtigkeit, sein "Auftritt mit dem jungen Willy Brandt vergleichbar", wie der stern vor zwei Jahren schwärmte, sind dahin. Doch damit eben auch die Faszination, mit einem wie Robert Habeck ins Kanzleramt zu drängen.
Baerbock muss die Chance nutzen
Fair erscheint das nicht, aber so wirkt Robert Habeck seiner größten Stärke beraubt. Dazu fehlt bisher eine Frau, die sich ums Kanzleramt bewirbt. Und da ist auch noch das zentrale Ziel der eigenen Partei, dass "50 Prozent der Bevölkerung auch 50 Prozent der Macht gehören" sollten. Es ist eine Konstellation, in der an Annalena Baerbock in der K-Frage praktisch kein Weg vorbeiführt. Und es ist eine Chance, die eine so ambitionierte Politikerin schlicht nutzen muss.
Quellen: "Rolling Stone" ( Februar 2021); "Die Zeit" (Bezahl-Inhalt); Twitter Bündnis90/Die Grünen; Twitter Michael Kellner; Robert Habeck bei "Anne Will"; "Berliner Runde" (ZDF)