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SPD-Krise Eene meene Beck, und ihr seid weg

Ratlos in den Untergang: Die SPD steckt in der tiefsten Krise ihrer Geschichte, in der Bundestagsfraktion macht sich Panik breit. Jeder Dritte bangt um seinen Sitz. Noch traut sich keiner, Parteichef Beck wegzuputschen. Noch hoffen alle, dass er freiwillig auf die Kanzlerkandidatur verzichtet.
Von Jens König und Jan Rosenkranz

Die erste Zusammenkunft der SPD-Bundestagsfraktion nach der Neuwahl 2005. Im Saal sitzen 222 Abgeordnete. "Lauter Leute, die sich schon im Leichenschauhaus gesehen hatten", wie sich Olaf Scholz, heute Arbeitsminister, erinnert. Sie hatten einen Abschiedswahlkampf geführt, ohne Hoffnung auf Wiederkehr. "Und plötzlich waren doch noch alle am Leben", so Scholz. Sie starren ehrfürchtig nach vorn, auf den Mann, der sie mit einer furiosen Show gerettet hat. Sie schauen Gerhard Schröder an, als sei er der Herrgott persönlich.

Zwei Parteivorsitzende später steht Kurt Beck vor der Fraktion. Von Ehrfurcht keine Spur. Die Abgeordneten lesen Zeitung, quatschen, rollen mit den Augen. So wie neulich, als der SPD-Chef einen seiner berüchtigten Schwurbelberichte zur politischen Lage an und für sich referiert. Beck klagt über die einseitige Berichterstattung der Medien. Er spricht von einer "Delle" in den Umfragen. Delle ist gut. Delle klingt nach ausbeulen und weiterfahren. Dabei muss die SPD gerade ihren eigenen Totalschaden zu Protokoll nehmen. Beck könnte viele Abgeordnete den Job kosten. Sie schauen ihn an wie den Leibhaftigen.

"Gespenstisch" nennt einer aus der Fraktionsführung Becks Lageanalyse hinterher. "Einfach nur gespenstisch."

Die Unruhe unter den Abgeordneten wächst. Angst macht sich breit. Bei der nächsten Bundestagswahl geht es nicht nur um das Schicksal ihrer Partei, es geht auch um ihren eigenen Kopf. Würde am Sonntag gewählt, bekäme die SPD laut der aktuellen stern-Umfrage von Forsa 24 Prozent. 10 Prozentpunkte weniger als bei der letzten Wahl. Der blanke Horror für die Fraktion: Von den 222 sozialdemokratischen Abgeordneten würden 70 ihr Mandat verlieren. Fast jeder Dritte! Von der eigenen Partei und deren Chef mit in den Abgrund gerissen.

Ein Exodus wie nie zuvor

Man kann sogar ziemlich präzise vorhersagen, wen es treffen würde. Jörn Thießen aus Itzehoe zum Beispiel. Oder Monika Griefahn aus Soltau-Fallingbostel. Fraktionsvize Ulrich Kelber aus Bonn. Auch den wirtschaftspolitischen Sprecher Rainer Wend aus Bielefeld. Und die Drogenbeauftragte Sabine Bätzing aus Neuwied. Sogar Justizministerin Brigitte Zypries aus Darmstadt wäre fällig. Allein der größte Landesverband Nordrhein-Westfalen würde von seinen derzeit 54 Mandaten 20 einbüßen. Es wäre ein Exodus, wie ihn die SPD nie zuvor erlebt hat.

Lale Akgün ist eine der vielen Genossen, die sich ernsthaft Sorgen um ihren Job machen müssen. Direkt gewählte Abgeordnete aus Köln. Laut dem Forschungsinstitut election.de, das Vorhersagen für die einzelnen Wahlkreise trifft, ginge ihr Direktmandat derzeit an die CDU. "Es bringt doch nichts, jetzt in Panik zu verfallen", sagt sie. Akgün ist studierte Psychologin und Psychotherapeutin. Sie hat ihre Emotionen im Griff. "Ich will auch in den nächsten anderthalb Jahren gute Politik machen. Der Rest wird sich zeigen."

So gelassen wie Akgün sehen das längst nicht alle in der Fraktion. "Ich kenne Genossen, die sagen allen Ernstes: Wenn ich meinen Wahlkreis verliere, bring ich mich um", erzählt ein Abgeordneter.

Kritik und Resignation

Die Stimmung ist gedrückt, wie fast überall in der Partei. Die Genossen sind frustriert, verunsichert, niedergeschlagen. Egal, ob es sich um junge Abgeordnete oder Haudegen handelt, um Fraktionsspitzen oder Bundesminister - ätzende Kritik und Resignation, wohin man hört. Wenn man den Gesprächspartnern zusichert, sie nicht mit ihrem Namen zu erwähnen, liefern sie Berichte aus dem sozialdemokratischen Innenleben, die das ganze Ausmaß der Verzweiflung deutlich machen.

"Wie soll die Stimmung schon sein?", sagt der SPD-Linke. "Scheiße. Wir ertragen Kurt Beck nicht, wir erleiden ihn." "Wir konzentrieren uns zu sehr auf Oppositionsthemen", sagt der Mann vom konservativen "Seeheimer Kreis". "Wir spielen nur Philipp Lahm. Immer auf der linken Seite."

"Beck mauert sich in Mainz ein. Er misstraut jedem, der mit Berliner Kennzeichen fährt", sagt der Minister.

"Egal, wer unser Kandidat wird - der nächste Kanzler heißt Angela Merkel, das steht jetzt schon fest", sagt der hohe Fraktionär. "Für die SPD geht es nur noch darum, Juniorpartner in der Großen Koalition zu bleiben. Für ein Bündnis mit der FDP und den Grünen sind wir zu schwach."

Und unisono fügen alle hinzu: "In so einer tiefen Krise waren wir noch nie. Ich bin ratlos."

"Autoaggressives Verhalten"

Über 140 Jahre alt ist die SPD. Die älteste Partei in Deutschland. Sie war immer stolz auf sich, überzeugt von ihrem historischen Auftrag, fühlte sich allen anderen moralisch überlegen. Sie hat Unterdrückung, Verbote und Niederlagen überstanden. Und jetzt muss sie feststellen, dass all das keine Garantie dafür bietet, ein weiteres Jahrhundert zu überleben.

Ende 2008 wird die SPD zum ersten Mal weniger Mitglieder haben als die CDU: Voraussichtlich nur noch knapp über 530.000. Auch das eine Zäsur.

Den Galgenhumor gibt's zu dieser Sinnkrise gratis dazu. Als die bayerische Landesgruppe der SPD-Bundestagsfraktion ihr Frühlingsfest in Berlin feiert, präsentiert sie einen Kulturschlager aus Bayern: den "Arbeitskreis Hohn & Spott", die Kabarettgruppe der Münchner Landtagsfraktion. Die Abgeordneten ziehen den eigenen Parteichef durch den Kakao. "Wer seine Mitte verliert, der soll wenigstens den Rand halten", höhnt das Sozikabarett. Und: "Da wünscht man sich doch den Willy zurück." Pause. "Das Problem ist nur: Nach einem Willy Brandt kommen fünf Rudolf Scharpings." Der Saal, voll mit Sozialdemokraten, brüllt.

So ist die SPD fast immer gewesen, und so ist sie heute noch: Ihren Frust richtet sie gegen sich selbst, am liebsten gegen die eigene Führung. Psychologen bezeichnen das als "autoaggressives Verhalten". Der Name "SPD" bekommt da einen völlig neuen Sinn: Sozial-Psychiatrischer Dienst.

Beck steht unter Dauerbeobachtung

Auf dessen Intensivstation liegt seit Monaten der Patient Kurt Beck. An der SPD-Krise ist er nicht alleine schuld, aber sie trägt seinen Namen. Die Beck-Krise. Er steht unter Dauerbeobachtung.

Die Diagnose seiner zahlreichen Anhänger in den Ländern und der Provinz: Alles wird gut mit ihm. Beck gibt der Partei, was sie braucht. Er stabilisiert sie. Er versöhnt die Agenda-SPD mit der Traditions-SPD. Die Diagnose seiner nicht minder zahlreichen Gegner im Berliner Betrieb: Gar nichts wird gut. Beck gibt dem linken Flügel, was der will. Er demontiert die starken Minister Steinbrück und Steinmeier. Er verspielt das Erbe der Schröder-SPD. Und die Glaubwürdigkeit der Partei: Welcher Wähler soll Beck noch abkaufen, dass die SPD 2009 im Bund tatsächlich nicht gemeinsame Sache mit der Linkspartei macht?

Viele Abgeordnete sind überzeugt davon, dass Kurt Beck gerade deswegen nicht nach der Kanzlerkandidatur greifen wird. Nicht greifen kann. Weil er im Wahlkampf jeden Tag aufs Neue erklären müsste, warum er trotz katastrophaler Umfragewerte der richtige Kandidat ist. So ist ausgerechnet Becks Schwäche die Garantie dafür, dass die Stimmung in der Fraktion nicht Richtung Revolte kippt. Noch nicht. "Wenn sich im Herbst wider Erwarten allerdings doch abzeichnen sollte, dass Beck als Kanzlerkandidat antreten will, dann könnte in der Fraktion offener Widerstand ausbrechen", glaubt ein einflussreicher Parlamentarier.

"Der kann es nicht"

Fraktionschef Peter Struck hält sich in der K-Frage zurück. Offiziell verteidigt er den Zeitplan, wonach der Parteivorsitzende Ende dieses oder Anfang nächsten Jahres einen Vorschlag unterbreiten wird. Im kleinen Kreis soll Struck allerdings schon sein endgültiges Urteil über Beck gefällt haben: Der kann es nicht. Der Fraktionschef hält Frank-Walter Steinmeier für den einzig aussichtsreichen Kandidaten. Sein Hauptargument: Dem Außenminister würden die Wähler wenigstens glauben, dass 2009 nichts, aber auch gar nichts zwischen SPD und der Linken läuft. Und Franz Müntefering, der zurückgetretene Vizekanzler? Taucht trotz der Krebserkrankung seiner Frau in letzter Zeit wieder regelmäßig in der Fraktion auf. Setzt sich in Reihe fünf unter die Abgeordneten aus Nordrhein-Westfalen, wirft seinen roten Schal über die Stuhllehne und schweigt. Seit seinem Rückzug hat er sich in keiner Fraktionssitzung zu Wort gemeldet. Klare Vorstellungen, wie seine SPD noch zu retten ist, hat er schon. Aber wie soll er sie durchsetzen, ohne Amt?

Vor zwei Wochen hat er anderthalb Stunden mit Kurt Beck geredet. Worüber? Schweigen sowohl im Beck- als auch im Münte-Lager. Nur so viel: "Freunde werden die beiden nicht mehr." Es gilt als offenes Geheimnis, dass Müntefering Beck für den völlig falschen Kanzlerkandidaten hält. Die Entscheidung für Steinmeier sollte seiner Meinung nach schneller fallen als bislang geplant. Spätestens nach der Bayernwahl im September müsse in der Kandidatenfrage Klarheit herrschen.

Ein Horrorszenario

Spätestens dann beginnt auch in der Fraktion die Schlacht um die Bundestagsmandate. Früh drängelt, wer weit vorne landen will. "Da wird mit allen Mitteln gekämpft", erzählt ein Abgeordneter. "In der heißen Phase lasse ich mich jedenfalls nicht auf eine Pilzsuppe einladen."

Die Fraktionsführung hat andere Sorgen. Sie fürchtet, dass sich die Abgeordneten von der eigenen Regierungspolitik distanzieren, von Rente mit 67 und dem Gesundheitsfonds, um zu Hause im Wahlkreis ihre Chancen zu vergrößern. Um die Gegenkandidaten aus der eigenen Partei links zu überholen. "Da soll ja niemand den Märtyrer spielen", warnt Struck seine Leute. "Ich erwarte von allen, dass sie die Arbeit der SPD in der Großen Koalition offensiv verteidigen."

Unter weitblickenden Fraktionsmitgliedern kursiert bereits ein Horrorszenario: Wenn Strucks Appell verhallt, könnte die SPD nächstes Jahr nicht nur 70 Mandate verlieren, sondern auch noch auf der harten Oppositionsbank landen - gleich neben den Genossen von der Linkspartei. Die würden die Sozialdemokraten in einen erbarmungslosen Wettbewerb treiben: Wer ist der linkeste Linke im ganzen Land? Dabei könne die SPD nur verlieren. "Dann kann Oskar Lafontaine gleich den Vereinigungsparteitag vorbereiten."

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