Viertel nach zehn! Nervös blickt Josef Gabcik auf seine Armbanduhr. Seit neun Uhr steht er nun an der Straßenbahnhaltestelle Klein-Holleschowitzer Straße im Prager Vorort Lieben, und immer noch kein Zeichen von Josef Valcik. Der hält weiter oben an der Kirchmayerstraße Ausschau nach dem "Objekt". Wieder wischt sich Gabcik den Schweiß von der Stirn. Seine Aufregung und die Maisonne heizen ihm ein. Trotz des warmen Frühlingswetters trägt er über dem Arm einen Regenmantel. Darunter verbirgt der in England ausgebildete Fallschirmjäger eine Maschinenpistole vom Typ Sten Gun Mk II FF 209. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lehnt Jan Kubis an einer Laterne, der dritte Mann, zwei hochempfindliche Bomben in der Aktentasche. Er wirft Gabcik einen fragenden Blick zu. Mit gereizter Geste bedeutet der ihm: Warte!
Dann geht plötzlich alles ganz schnell - und ziemlich schief. Eben rattert die Straßenbahn der Linie 3 heran, da blitzt an der Kirchmayerstraße Valciks Rasierspiegel in der Sonne: das Zeichen! 10.29 Uhr. Gabcik hastet zu Kubis an die Innenseite der Haarnadelkurve, wo die Straße scharf zum Moldau-Ufer hin abbiegt. Ein dunkelgrüner Mercedes 320 mit dem Kennzeichen "SS-3" nähert sich, ein offenes Kabriolett, in dessen Fond ein hochgewachsener Mann in der Uniform eines Obergruppenführers der Schutzstaffel sitzt. Sein Fahrer, ein SS-Oberscharführer, bremst vor der Kurve ab, zumal die Straßenbahn jetzt gegenüber zum Stehen gekommen ist. Leute steigen ein und aus. Gabcik hat den Mercedes nur drei Meter vor sich. Da lässt er seinen Mantel fallen, reißt die Maschinenpistole hoch und drückt den Abzug. Es geschieht - nichts.
"Schussverletzung/Mordanschlag/Wundinfektion"
"Anhalten!", schreit der Obergruppenführer und erhebt sich vom Sitz. Chauffeur Johannes Klein, statt seinen Chef durch Gasgeben in Sicherheit zu bringen, gehorcht. Während Gabcik total entgeistert an seiner Sten Gun fummelt, haben die beiden SS-Leute schon ihre Pistolen gezogen. Da tritt Kubis hervor und schleudert eine Bombe. Sie explodiert um 10.31 Uhr neben dem rechten Hinterrad und hätte um ein Haar ihr Ziel verfehlt. Heydrich wird nicht durch den Sprengsatz zerfetzt, sondern stirbt an einem Rosshaar. Es dringt aus der Sitzpolsterung mit Splittern in die Milz des SS-Führers ein. "Schussverletzung/Mordanschlag/Wundinfektion" wird am 4. Juni in die Sterbeurkunde eingetragen.
So endete vor 60 Jahren das Leben von Reinhard Heydrich, das nur 38 Jahre währte. Er war ein Mann, der wie sonst nur noch "der Führer" Adolf Hitler und der "Reichsführer-SS" Heinrich Himmler die finsterste Seite des Nationalsozialismus verkörperte: eiskalt, gewissenlos, berechnend, mörderisch. Es hat lange gedauert, bis die Forschung sich an diese Figur herangewagt hat, die nicht nur bei der berüchtigten Wannsee-Konferenz 1942 die "Judenpolitik" bestimmte. Bis heute gibt es keine wissenschaftlich fundierte Biografie über Heydrich. Doch je mehr NS-Dokumente aus östlichen Archiven zugänglich wurden, je intensiver Historiker den Machtapparat und seine Entscheidungswege durchleuchten konnten, desto deutlicher wurde: Überall da, wo Hitlers Hassvisionen in konkrete Bluttaten umschlugen, ging Heydrich als Antreiber, Planer und Organisator voran. "Er war immer der aktivste Vollstrecker", urteilt der Stuttgarter Historiker Eberhard Jäckel. "Er handelte, wenn andere zauderten."
Auf der Grundlage neuester Forschungen, Interviews mit Zeitzeugen und Experten sowie monatelanger Recherchen in deutschen, amerikanischen und osteuropäischen Archiven und an seinen Lebensstationen von Halle bis Prag dokumentiert der stern die Rolle des Staatsterroristen Heydrich: beim "Röhm-Putsch", in der "Reichskristallnacht", bei der Ermordung deutscher Nazi-Gegner und polnischer Intellektueller, sowjetischer Kriegsgefangener und tschechischer Widerständler. Vor allem aber war er der wahre "Architekt des Holocaust". Er war es, der die ersten Konzentrationslager in Deutschland organisierte und später die Vergasungsfabriken im Osten. Für seine Skrupellosigkeit bei der Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der europäischen Juden pries Hitler ihn als "Mann mit dem eisernen Herzen". Nach Ansicht des Amerikaners Charles Sydnor, der an einer Heydrich-Biografie arbeitet, war er "ebenso fanatisch wie der Rassenideologe Himmler, aber ergebnisorientiert und systematisch wie ein moderner Manager - ein pragmatischer Massenmörder".
"Genialer Gesinnungsverbrecher"
Wie bei Hitler scheinen Forscher auch bei Heydrich immer wieder der Faszination des Bösen zu erliegen. Der Chef des berüchtigten Reichssicherheitshauptamts, dem die Geheime Staatspolizei (Gestapo) und der SS-Sicherheitsdienst unterstanden, habe seine Verbrechen "mit einer bemerkenswerten, ja großartigen Begabung erdacht und durchgeführt", urteilte der Kieler Historiker Michael Freund in einem Gerichtsgutachten 1956. "Er hat die luziferische Größe eines genialen Gesinnungsverbrechers."
Heydrich wäre als "einer der größten Verbrecher des 20. Jahrhunderts, für die Ermordung von Millionen von Juden unmittelbar verantwortlich", vom Nürnberger Kriegsverbrechertribunal 1946 "mit nahezu absoluter Sicherheit" zum Tode verurteilt worden.
Das Attentat von Prag am 27. Mai 1942 kam einem solchen Schicksal zuvor. Weil es nie einen Prozess gegen den Gestapo-General gegeben hat, gerieten seine Untaten in Vergessenheit, rankten sich Mythen um seine Aussichten auf Hitlers Erbe, konnten Neonazis den angeblich unbelasteten Heydrich zum "idealen Nationalsozialisten" hochstilisieren. Aber die Lebensgeschichte dieses Mannes spricht eine klare Sprache: Sie handelt von Intrige und Intoleranz, Zerissenheit und Zerstörungswut, Machtgier und Mordlust.
Halle an der Saale möchte am liebsten nur für Georg Friedrich Händel bewundert werden, geboren 1685, der den "Messias" schrieb und für sein Wirken als Hofmusiker in London von den Briten ewig als "our Handel" geliebt wird. Völlig verdrängt haben die Hallenser, dass in der alten Salzstadt auch Heydrich zur Welt kam, am 7. März 1904 um 10.30 Uhr in der Marienstraße 21. Im "Halleschen Central-Anzeiger" vom 10. März gaben "hocherfreut" Bruno Heydrich, der Leiter des örtlichen Konservatoriums, und seine Frau Elisabeth, Tochter des Dresdner Musikprofessors Georg Eugen Krantz, "die glückliche Geburt eines überaus kraftvollen, gesunden Jungen" bekannt.
Dickköpfig, geltungssüchtig, jähzornig
Doch so gesund war Reinhard Tristan Eugen nicht. Erst ein halbes Jahr alt, wäre er fast von einer Hirnhautentzündung hinweggerafft worden. Der locker evangelische Vater und die streng katholische Mutter, bis dahin uneins, ließen den Säugling am 6. Oktober 1904 in der katholischen Propsteikirche St. Franziskus und Elisabeth nottaufen. Wie die Encephalitis Geist und Gemüt des jungen Heydrich schädigte, bleibt unergründlich. Fest steht, dass er als Kind ständig aus der Rolle fiel: dickköpfig, geltungssüchtig, waghalsig, widerspenstig, jähzornig, schon früh ein Einzelgänger, der nach Liebe lechzte, doch die Mutter, ganz Grande Dame, legte Wert auf Disziplin und Distanz.
Wäre es nach dem Vater gegangen, wäre Heydrich "ein zweiter Mozart" geworden. Schon früh lernte der Sohn Geige und Klavier in dem 1908 bezogenen großen Konservatorium Gütchenstraße 20, doch aus einer Karriere wie der des fidelen Papas, der sogar in Bayreuth den Heldentenor gab und eigene Opern wie "Amen" und "Frieden" komponierte, wurde nichts: "Reini" hatte zeitlebens eine Piepsstimme und ein meckerndes Lachen, was ihm den Spitznamen "Hebbe" (Ziege) einbrachte. Die Violine hingegen beherrschte er bald so virtuos, dass er Zuhörer zu Tränen rührte.
Dem Alleingänger wurde das Instrument zum "einzigen Freund". Ansonsten hielt Heydrich junior mehr vom Soldatsein. Wenn er im Familiensommer in Swinemünde die Reichsmarine auf der Ostsee kreuzen sah oder wenn der berühmte "Seeteufel", Felix Graf von Luckner, als Gast im Hause Heydrich von seinen Abenteuern auf den Ozeanen klönte, schlug sein Herz höher.
Feindbilder "Rote" und Juden
FeindbilderMit Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg brach 1918 für den kaisertreu und nationalstolz erzogenen Reinhard Heydrich, wie für Millionen seiner Landsleute, alles zusammen. Der plüschige Wohlstand war dahin; mit dem Privatkonservatorium ging es bergab; im "Steckrübenwinter" 1917/18 hungerten die Heydrichs zum ersten Mal. Sie glaubten an die "Dolchstoß-Legende", wonach Verräter im Inneren das "im Felde unbesiegte" Heer dem Feind ausgeliefert hätten, allen voran die "Roten" und die Juden. Als im Frühjahr 1919 streikende Kommunisten Halle besetzten, lief der 15-jährige Schüler des Reformgymnasiums zu den Fahnen eines rechtsradikalen Freikorps.
Apologeten Heydrichs, die ihn gern als politisch desinteressiert hinstellen, haben solche Aktivitäten in Zweifel gezogen, weil bei den Freikorps offiziell 17 Jahre als Eintrittsalter galten. Der stern fand nun in den Washingtoner National Archives dokumentarische Beweise: zwei Ausweise der "III. Abt., 1. Landesjäger-Regt." für Heydrich, einen handschriftlichen vom 6. März und einen maschinengeschriebenen vom 15. März 1919, sowie eine undatierte Mitgliedskarte der "Einwohnerwehr Halle, Bez. 21" mit dem Randvermerk "dient auch als Waffenschein".
Der sportliche Heydrich trat ein, als Generalmajor Georg Maercker, Kommandeur des Landesjägerkorps, dort mit Kriegsrecht und Panzerzug gegen Spartakisten vorging. "Ich habe noch keine Stadt kennen gelernt, wie weit ich auch herumkam, wo der Mob so gehaust hat wie hier", zürnte er. 500 "Plünderer" ließ er an die Wand stellen. Ehe Maercker weiterzog, verordnete er Halle eine Bürgerwehr. Heydrich diente ihr ein Jahr lang als freiwilliger Meldeläufer. Als nach dem rechtsradikalen Kapp-Putsch im März 1920 erneut ein Aufstand der Linken Halle in den Belagerungszustand versetzte, half Heydrich bei der staatlichen Technischen Nothilfe, die Versorgung mit Strom, Gas und Wasser aufrechtzuerhalten. Auch da sah er Hunderte bei Straßenkämpfen verbluten.
Ostern 1922 machte "Reini" sein Abitur und rückte bald darauf bei der Marine in Kiel ein: Admiral wollte er werden. Die Ausbildung auf dem Linienschiff "Braunschweig", dem Segelschulschiff "Niobe" und dem Kreuzer "Berlin" wurde schwer für den arroganten Sonderling mit der Geige. Seine Kameraden hänselten den hoch gewachsenen Blondschopf mit den schrägen "Wolfsaugen" und amüsierten sich, wenn sein Gesicht "bei Erregung purpurrot" wurde, wie Mitschüler Hans Heinrich Lebram berichtete. "Freunde hatte er in der Crew keine." Dafür fiel sein Geigenspiel an Bord der "Berlin" Korvettenkapitän Wilhelm Canaris auf: Er lud Heydrich ab 1924 regelmäßig zur Hausmusik mit seiner Frau Erika nach Kiel ein - eine ungeheure Ehre für einen Fähnrich.
Ruf als Schürzenjäger
Bei der Marine ließ sich Heydrich nach der Ernennung zum Leutnant am 1. Oktober 1926 zum Funkoffizier ausbilden. Er kam zwei Jahre später unter den Oberleutnants seines Jahrgangs nur auf Platz 23. Dafür stach er als aktiver Sportler hervor: Fechten, Reiten, Segeln, Pistolenschießen, Schwimmen, Waldlauf - hier tobte Heydrich seinen lebenslangen Ehrgeiz aus, stets der Beste zu sein. "Er segelte so", erinnert sich eine Zeitzeugin, "dass er entweder kenterte oder den ersten Preis machte." Beim Reiten auf der Heeressportschule Wünsdorf brach er sich zweimal die Nase. Als Schürzenjäger kam er sich laut Lebram "unwiderstehlich vor". Bei einem Flottenbesuch 1926 in Funchal auf Madeira brüskierte Heydrich mit Avancen beim Tanz britische Offiziersdamen, was der Crew des Flaggschiffs "Schleswig-Holstein" peinlich aufstieß.
Ihn selbst quälte das Gerücht einer teilweise jüdischen Abstammung. Bei einem Heimatbesuch in Halle mokierte sich ein Bursche: "Guck mal, der junge Itzig Süß in Marineuniform!" Er versteckte sich, so Lebram, hinter einer "antisemitischen Einstellung", dennoch nannten ihn Marinekameraden "weißer Jude". Schon damals suchte Heydrich Kontakt zu "Völkischen" wie den Anhängern eines Münchner Agitators namens Adolf Hitler. Dessen Hassbuch "Mein Kampf", geschrieben, als er wegen eines Putschversuchs in Bayern am 9. November 1923 in der Festung Landsberg am Lech einsaß, wurde Heydrichs Lektüre.
Beim Segeln schloss der Jungoffizier Bekanntschaft mit dem Jurastudenten Werner Mohr, der im Herbst 1925 in der ostholsteinischen Kreisstadt Eutin NSDAP und SA mitgründete, nachdem er Hitler im Bürgerbräukeller bei der Wiederzulassung der Partei gehört hatte. Mohr nahm an verbotener Kampfausbildung der "Schwarzen Reichsmarine" bei der Hanseatischen Yachtschule in Neustadt teil, wo Heydrich oft zu Gast war.
Die Marine prägte ihn im Geist von Revanchismus und verletztem Nationalstolz. Am 3. Juni 1923 nahm Heydrich mit anderen Kadetten an einer Feier zur Erinnerung an die verlorene Skagerrak-Schlacht von 1916 teil, bei der eine Tafel mit der - heute noch zu sehenden - Inschrift enthüllt wurde: "Nicht klagen. Wieder wagen! Seefahrt ist not!" Und daneben auf Latein: "Möge ein Rächer aus unseren Gebeinen erstehen."
"Wollen Sie meine Frau werden?"
Eine begeisterte Hitler-Anhängerin veränderte bald Heydrichs Leben. Am Nikolaustag 1930 lernte er bei einem Rudererball in der Kieler Tonhalle die Berufsschülerin Lina von Osten kennen, erst 19, blond und drall. Ihre ganze Familie, verarmter Landadel von der Insel Fehmarn, war auf Nazi-Kurs. Von ihrem Vetter Peter Wiepert stammt der Spruch: "Auf Fehmarn gibt es weder Schlangen noch Maulwürfe noch Juden." Zwei Tage nach dem ersten Treffen lud Heydrich sie in Wicht's Weinkeller und fragte: "Fräulein von Osten, wollen Sie meine Frau werden?" Verblüfft sagte sie: "Ja." Am 18. Dezember verlobten sie sich heimlich.
Zu Weihnachten, im Elternhaus in der Dorfschule von Lütjenbrode in Ostholstein, segneten die Eltern die Verbindung ab. Kommentarlos schickte Heydrich seine Verlobungsanzeige einer Elevin der Kolonialen Frauenschule in Rendsburg, mit der er eine Zeit lang ausgegangen war. Die Tochter eines einflussreichen Beamten in der Marineleitung reagierte entsetzt. Denn seit sie auf Drängen Heydrichs eine Nacht in seiner Pension, wenn auch nicht in seinem Bett, verbracht hatte, betrachtete sie sich als "verlobt". So sah es auch ihr Vater, und der beschwerte sich bei seinem Bekannten, dem Marine-Oberbefehlshaber Admiral Erich Raeder, über den treulosen Offizier. Heydrich musste vor den Ehrenrat der Marine in Kiel. Was mit einer Rüge wegen einer "Weibergeschichte" hätte enden können, trieb Heydrichs Hochmut zum Eklat. Dem Gremium missfiel, so Mitglied Gustav Kleikamp später, "seine bewiesene Unaufrichtigkeit, um sich reinzuwaschen". Der Rat empfahl und Raeder verfügte "schlichten Abschied wegen Unwürdigkeit". Am 30. April 1931 flog Heydrich aus der Marine. Mitten in der Weltwirtschaftskrise stand er vor dem Nichts. Der Oberleutnant a. D. fuhr heim nach Halle, sperrte sich in sein Zimmer und weinte tagelang vor Wut und Selbstmitleid.
Ein Angebot seines Freundes Mohr, Segellehrer in Neustadt zu werden, schlug er aus: Er wollte kein "Segeldomestik für Geldkinder" sein. In tiefster Not wandte sich Heydrichs Mutter an Reinhards Patentante, Elise Freifrau von Eberstein. Deren Sohn Karl war inzwischen SA-Oberführer in München, der "Hauptstadt der Bewegung". "Karlchen" wusste, dass die neue SA-Elitetruppe, die SS, einen "Nachrichtenmann" suchte - und sie hatte schöne schwarze Uniformen für "Reini".
Am 1. Juni 1931 trat Heydrich der NSDAP bei, Mitgliedsnummer 544 916. Am 14. Juni traf er mit der Bahn in München ein. Obwohl von Eberstein ihm sagte, der "Reichsführer-SS" Heinrich Himmler kuriere eine Grippe aus, fuhr Heydrich zu ihm auf seine Hühnerfarm in Waldtrudering. Der SS-Chef hatte früher Landwirtschaft studiert und war als privater Geflügelzüchter kläglich gescheitert, ehe er Hitler die Schutzstaffel als Leibwache andiente. Verschnupft empfing Himmler den Bewerber, aber sogleich war er von dessen nordischem Aussehen entzückt, "groß und blond mit anständigen, scharfen und gutmütigen Augen", wie er später erzählte. Da machte es auch nichts, dass die Bewerbung auf einem Irrtum beruhte. Himmler wollte einen parteiinternen Spitzeldienst aufbauen und brauchte dafür einen "Nachrichtenoffizier".
"Ja, Reichsführer, ich bin gar nicht der, den Sie suchen", begann Heydrich, "ich bin Funkoffizier gewesen." Himmler erwiderte: "Das stört mich gar nicht. Setzen Sie sich in das Zimmer hin; ich komme in einer Viertelstunde wieder; schreiben Sie auf, wie Sie sich einen Nachrichtendienst der NSDAP vorstellen."
Keilereien mit Kommunisten
Heydrich bemühte sein Wissen über militärische Organisation und Aufklärung und koppelte es mit Stoff aus seiner Lieblingslektüre, englischen Kriminalromanen. Himmler war mit dem Resultat zufrieden: "Gut, ich nehme Sie." Während draußen die Hühner gackerten, wurde zwischen den beiden jungen Männern - Himmler war nur vier Jahre älter als Heydrich - ein Pakt geschlossen, der Deutschland der Macht des Bösen ausliefern sollte. Als Anfangsbezüge wurden 120 Reichsmark vereinbart, ein Hungerlohn.
Ehe Heydrich im "Braunen Haus", der Parteizentrale in München, anfing, musste er noch durch die niederen Weihen des Nazitums: die "Kampfzeit". In Hamburg trat der Oberleutnant z.S.a.D. am 14. Juli als Untersturmführer der SS bei (Mitgliedsnummer 10120) und beteiligte sich mit den Rabauken des frisch gebildeten "Marinesturms" der SA vor der Bürger-schaftswahl vom 27. September an Keilereien mit Kommunisten. Unter denen war bald von einer "blonden Bestie vom Dovenhof" die Rede. Die habe die Nazi-Rollkommandos "militärisch gedrillt", sodass sie wie der Blitz zuschlugen und abzogen, ehe die Polizei kam.
Dem smarten Heydrich konnte nicht entgehen, auf welche Partei er sich da einließ: Nazis kämpften mit Mord- und Hasstiraden gegen Rote und Juden, wie sie Hitler schon in "Mein Kampf" ausgegeben hatte: "Siegt der Jude mit Hilfe seines marxistischen Glaubensbekenntnisses über die Völker dieser Welt, dann wird seine Krone der Totenkranz der Menschheit sein." Hitler wollte zudem den "Staat des November-Verrats", die Demokratie von Weimar, zerstören. "Wir wollen die Macht", schrie Nazi-Propagandist Joseph Goebbels bei einer Wahlkundgebung in Hamburg, "und die werden wir auch bekommen, ob ihr wollt oder nicht!"
Nur wenige Nazis waren im Herbst 1931 mit seinen fünf Millionen Arbeitslosen so zuversichtlich. Die NSDAP steckte in Richtungskämpfen, die Stimmung in der SA und der angegliederten SS war flau. Ab August stellte Heydrich in München seinen nach Militärusus "Ic" genannten Nachrichtendienst auf die Beine.
Dies ist die Geburtsstunde des Sicherheitsdienstes, der sich krakengleich über ganz Deutschland und halb Europa ausstrecken sollte. Schon beeindruckte Heydrichs Instinkt für Menschen und Macht den Reichsführer. Er bezichtigte den Parteigenossen Horninger, den Himmler auch als Ic-Leiter in Betracht gezogen hatte, V-Mann der Münchner Polizei zu sein. Der Vorwurf traf zu. Horninger nahm sich 1933 in Nazi-Haft das Leben. "Er besaß eine untrügliche Witterung für Menschen", lobte Himmler seinen neuen Recken. "Er sah mit geradezu verblüffender Hellsicht die Wege voraus, die Freund wie Feind gehen würden. Seine Männer wagten kaum, ihn zu belügen."
Karteikarten in der Zigarrenkiste
Gegnerische Spitzel, von Polizei bis KPD, ausfindig zu machen sah der stets misstrauische "Oberverdachtschöpfer" Heydrich als seinen Hauptjob an. Auf Karteikarten in einer Zigarrenkiste sammelte er alle Informationen, die er kriegen konnte - über Widersacher wie Anhänger. Am 26. August 1931 warnte er bei einem Referat über "Kampfmethoden der Gegner" SS-Führer vor lockerem Gerede über Parteisachen: "Man weiß eben doch nicht, wer die Verräter sind." Wer Heydrich für einen Zufalls-Nazi hält, muss sich nur seine Hochzeit anschauen: Als er am 26. Dezember 1931 in der evangelischen Dorfkirche von Großenbrode am Fehmarn-Sund seine Lina ehelichte, trug er zwar Frack, da SA- und SS-Uniformen zu jener Zeit verboten waren. Doch über dem Altar hing ein Hakenkreuz aus Tannenzweigen. Auf dem Kirchhof ging das Brautpaar durch ein Spalier einheitlich gekleideter Nazis, die rechte Hand zum Hitler-Gruß erhoben.
In der Messe sang Bruno Heydrich ein "Vaterunser", extra von ihm komponiert, aber beim Auszug spielte die Orgel das "Horst-Wessel-Lied", die Kampfhymne der Hitler-Partei. Die Hochzeitsgemeinde von SA, SS und NSDAP, der Lina seit 1929 angehörte, feixte, weil die Polizei auf Kirchengrund nicht eingreifen durfte. Zur Feier des Tages beförderte Himmler den Bräutigam zum Sturmbannführer. Damit stand er nun, ein halbes Jahr nach Eintritt in die SS, zwei Rangstufen höher als nach neun Jahren bei der Marine.
Um die gleiche Zeit bezog Heydrichs Ic-Referat in München ein eigenes Büro, zwei Zimmer zur Untermiete bei der Witwe Viktoria Edrich in der Türkenstraße 23. Die Frischvermählten fanden Anfang 1932 eine schäbige Wohnung in Lochhausen, aus der sie schon nach wenigen Monaten wieder umzogen in ein neues Quartier direkt am Nymphenburger Schlossgarten, Zuccalistraße 4. Sie teilten es wieder mit dem Ic, der sich wegen des SA-Verbots als Presse- und Informationsdienst (PID) des Reichstagsabgeordneten Himmler tarnte. "Alles wird auf privat frisiert", schrieb Lina Heydrich dazu. "Das Haus gibt uns bei unerwarteten Besuchern die Möglichkeit, alles Belastende verschwinden zu lassen. Unser Hund warnt uns rechtzeitig."
Heydrich rackerte unermüdlich: Während er durch Deutschland reiste, um qualifizierte Leute anzuwerben, las er sich in die Spionagematerie ein, ließ die "Gegnerkartei" über die Zigarrenkisten hinaus wachsen, gespeist von Spitzeln überall, selbst im Münchner Polizeipräsidium. Ab Juli 1932 war Heydrich formell "Chef des Sicherheitsdienstes beim Reichsführer SS". Dennoch war dieser SD so arm, dass er sich anfangs nicht einmal eine Schreibmaschine leisten konnte und vorwiegend unbezahlte Freiwillige einsetzte. Mehr Geld gab es erst nach Hitlers Machtantritt.
Vorliebe für junge Akademiker
In seine Truppe holte Heydrich mit Vorliebe junge Akademiker, Beamte und Geschäftsleute wie die Juristen Dr. Herbert Mehlhorn und Dr. Johannes Schmidt oder den Hamburger Kaufmann Carl Oberg, die am "Weimarer System" und der Wirtschaftskrise verzweifelten und nach Wegen suchten, etwas radikal Neues auf die Beine zu stellen - oder zumindest beruflich aufzusteigen. Heydrich, der charmant und mitreißend sein konnte, überzeugte sie, dass dieser Weg über NSDAP, SS und SD führte. Himmler wollte die SS als "schwarzen Orden" aufbauen, als eingeschworene Elite arischer Kämpfer für Hitler; Heydrich wollte mit dem SD die geistige Elite dieser SS schaffen. Er schwärmte vom englischen Secret Service, dem sich Gentlemen sogar ehrenhalber verpflichteten, und ließ sich wie dessen "Chief" mit "C" anreden.
Das alte Trauma holte Heydrich Anfang Juni 1932 wieder ein: Der NSDAP-Gauleiter von Halle-Merseburg, Rudolf Jordan, schrieb ans Braune Haus, ihm sei zu Ohren gekommen, dass in der Parteileitung "ein Pg. mit dem Namen Heydrich" arbeite, dessen Vater vermutlich Jude sei. Als "Beweis" wurde ein Auszug aus Hugo Riemanns Musik-Lexikon von 1916 beigelegt, in dem über den Vater des "Parteigenossen" stand: "Heydrich, Bruno (eigentlich Süß)..." Doch überraschend schnell, kaum zwei Wochen später, bescheinigte der Ahnenforscher Dr. Achim Gercke, Leiter der "NS-Auskunft", in einem Gutachten, "dass Oberleutnant z. See a.D. Reinhardt Heydrich deutscher Herkunft ist und frei von farbigem oder jüdischem Blutseinschlag". Der Schlossergehilfe Gustav Robert Süß sei der zweite Ehemann von Heydrichs Großmutter Ernestine Wilhelmine Heydrich, geborene Lindner, gewesen, also der Stiefvater von Bruno Heydrich. Laut beigefügter Ahnenliste war Süß "ev.-luth."
Obwohl damit für die Partei "alle strittigen Fragen geklärt" waren, ließ Heydrich jahrelang weiter nach jüdischen Vorfahren forschen, und nicht nur, weil Himmler von SS-Leuten eine "reinrassige" Abstammung bis zurück zum Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 verlangte. Wie Felix Kersten, der Masseur und Vertraute Himmlers, nach dem Krieg berichtete, nutzten der SS-Chef und Hitler diese Ängste aus. Nach einem langen Gespräch mit Heydrich habe Hitler zu Himmler gesagt: "Dieser Heydrich ist ein sehr gefährlicher Mann, dessen Gaben man der Bewegung erhalten muss. Solche Leute kann man jedoch nur arbeiten lassen, wenn man sie fest in der Hand behält. Dazu eignet sich seine nichtarische Abstammung ausgezeichnet. Er wird uns ewig dankbar sein, dass wir ihn behalten, und wird blindlings gehorchen." Doch viele Historiker zweifeln an Kersten.
Jeder, der das Gespann bei der Arbeit erlebte, spürte, wie seltsam unterwürfig Heydrich sich Himmler gegenüber verhielt: "Jawohl, Herr Reichsführer! Zu Befehl, Herr Reichsführer!" Und das bei einem Mann, der das Befehlen gewohnt war und bei jeder Kleinigkeit an seine Untergebenen "Anpfiffe" austeilte. Bangte er, dass seine Nazi-Karriere ebenso schlagartig enden könnte wie seine Marine-Laufbahn? Heydrichs Privatforscher Ernst Hoffmann berichtete ihm regelmäßig über die Suche nach jüdischen Ahnen: "Aus der Art, wie er mich musterte, wenn ich sein Zimmer betrat, waren ihm die Zweifel anzumerken", sagte Hoffmann. "Doch bevor ich ein Wort zur Sache geäußert hatte, hatte sich seine Unheil fürchtende Spannung gelöst. Er hatte gespürt, dass ,alles in Ordnung" war."
Teufel in Menschengestalt
Am 30. Januar 1933 waren die Nazis am Ziel: Die Regierungsgewalt fiel ihnen aus der Hand abgewirtschafteter bürgerlicher Politiker in den Schoß. Der greise Reichspräsident Paul von Hindenburg berief um 12.40 Uhr Adolf Hitler zum neuen Reichskanzler. Beim Betreten des Amts prophezeite Hitler: "Keine Macht der Welt wird mich jemals lebend hier wieder herausbringen." Unter den Linden feierte abends die Berliner SA mit Fackelzügen die "Machtergreifung". "Die endlose Wiederholung des Rufes ,Heil, Heil, Sieg Heil"", berichtete Hitlers konservativer Steigbügelhalter und Vizekanzler Franz von Papen, "klang mir in den Ohren wie eine Sturmglocke." Wurde ihm klar, dass er soeben Teufeln in Menschengestalt die Tore zur Tyrannei geöffnet hatte?