Herr de Winter, wir wollen über Europa sprechen.
In welcher Sprache: Niederländisch, Englisch oder Europäisch? Sprechen Sie europäisch?
Nein.
Sehen Sie. Ich auch nicht.
Dass es keine gemeinsame Sprache gibt, heißt nicht, dass wir nicht Europäer sein können.
Doch, weil Sprache Ausdruck einer Kulturgemeinschaft ist, von Geschichte und Tradition. Das drückt sich im Essen aus, wie wir uns kleiden, uns benehmen. Dafür braucht man Tausende Jahre Geschichte.
Sind Sie Europäer?
Ich bin Europäer genauso wie ein Mensch aus Indien ein Asiate ist.
Nicht mehr?
Wie könnte ich? Ich kann nicht einfach nach Spanien ziehen und da die gleichen Sachen kaufen und mit Nachbarn kommunizieren. Ich spreche die Sprache nicht, kenne die Tradition nicht, weiß nichts von Ritualen. Es ist eine andere Welt, und das zu Verneinen ist Selbstbetrug.
Fühlen Sie eine Verbundenheit mit anderen Europäern?
Nein, aber ich respektiere meine Nachbarn. Wie soll ich mich verbunden fühlen? Warum?
Es gibt einige, die sagen, wir sollten uns in Europa in dieser Krise etwas solidarischer zeigen.
Solidarisch? Warum soll das bei den Griechen aufhören? Warum nicht auch noch die Ägypter und die Sudanesen? In Griechenland fängt der Nahe Osten doch schon an. Kairo und Ankara sind Athen viel näher als Berlin oder Kopenhagen
Ein vereintes Europa braucht Zeit. Amerika ging auch erst durch einen Bürgerkrieg.
Also, möchten Sie einen Krieg haben?
Nein, ich möchte keinen Krieg, aber ich möchte Sie fragen, ob so etwas wie ein vereintes Europas nicht zu schaffen ist, über einen langen Zeitraum.
Von der politischen Elite natürlich nicht, das sind lange kulturelle Prozesse.
Davon geht die Politik ja aus.
Nein, die Politiker haben uns erpresst, die haben uns dieses Europa aufgezwungen. Ein europäisches Volk existiert nicht. Die Völker möchten ihre eigene ethnische Identität schützen. Die möchten unheimlich gern zusammenarbeiten, weil wir uns alle der schrecklichen Kriege bewusst sind, aber das bedeutet nicht, dass wir unsere Eigenheit aufgeben wollen. Leute, die Teil von supranationalen Eliten sind, ja, die können das, die haben offensichtlich andere Loyalitäten, aber ich habe die nicht. Ich weiß nicht, wie das Leben in den besten Flughafen-Lounges ist und in den 5 Sterne-Hotels, wo die Leute sich treffen.
Die europäischen Völker haben doch längst schon begonnen sich zu mischen.
Ich war kürzlich bei einem Treffen der EU in Aachen, Wolfgang Schäuble bekam da den Karlspreis. Ich nahm den Zug von Heerlen nach Aachen, 25 Minuten. Das war eine Reise in ein fremdes Land. Die Häuser sahen auf einmal anders aus, die Straßen, die Leute waren anders gekleidet.
Wie sind die anders?
Weil die anders sind (er wird laut). Weil die eine andere Geschichte haben, andere Gewohnheiten haben, eine andere Jugend, weil sie andere Anekdoten hören. Weil wir keinen Goethe haben, aber einen, der Vondel heißt, unser großer klassischer Schriftsteller. Natürlich gibt es Verbindungen und wir sind im Stande miteinander umzugehen. Das ist schon ein Wunder. Aber wie weit sollen wir gehen?
Wir sind schon weit gekommen in einem Europa ohne Grenzen, mit einer gemeinsamen Währung.
Ich habe keine Angst, mit Deutschland eine gemeinschaftliche Währung zu haben, weil unsere Wirtschaft ziemlich ähnlich ist und weil wir eigentlich ein 17. Bundesland sind. Der Protestantismus ist stark in unserer Gesellschaft, die bürgerliche Disziplin, wir arbeiten auf die gleiche Weise hart und wollen gute Bürger sein, wir haben eine wunderbare, nicht korrupte Beamtenschicht.
Wen würden Sie sonst noch mit einbeziehen?
Österreicher, Finnen, das protestantische, nördliche Europa. Doch da sehen wir schon das große Problem in Europa. Sie wollen, dass ich mich in Spanien niederlasse, und in Belgien können die sich im Norden nicht mal mit denen im Süden verständigen.
Die Politiker in Brüssel wollen doch nicht, dass Sie ihre Identität aufgeben.
Was möchten sie dann?
Eine föderale Union. Eine einheitliche Finanz- und Wirtschaftspolitik. Eine politische Union.
Warum?
Was Sie kulturell machen, interessiert die in Brüssel doch nicht.
Die EU ist eine technokratische Illusion. Wir sind völlig anders als die Italiener, Spanier, Portugiesen, Griechen. Sie können diese Wirtschaft von Norden und Süden nicht einfach zusammenfegen und sagen: Ach, jetzt haben wir eine Einheit.
Lesen Sie auf der nächsten Seite: Warum Deutsche klüger sind als Griechen
Es sollen ja nicht alle gleichgemacht werden.
Und jetzt diese schreckliche Lüge, die Griechen sollten ihr Land renovieren, modernisieren. Aber was denn? Machen die alte Mercedes Benz-Modelle? Machen die alte wunderbare Siemens-Züge und Geräte? Die machen das alles nicht. Womit sollten die Griechen denn Konkurrenz machen? Die Deutschen sind klüger und arbeiten härter. Sie haben Produkte, auf die die Welt wartet. Die Griechen haben andere Qualitäten. Aber dieses Ziel, dass die Griechen in den kommenden 10-20 Jahren eine Wirtschaft entwickeln, die auf dem Level mit der Wirtschaft in Nordeuropa ist, ist Selbstbetrug, ist Betrug von Politikern an uns.
Griechenland könnte auf anderen Sektoren konkurrieren. Auch in Bayern gibt es nicht nur High-Tech, sondern Landwirtschaft. Ebenso in Holland.
Nein, die Griechen können keine Agrarwirtschaft wie wir in Holland haben. Wir sind einer der größten Agrarexporteure in der Welt. Warum haben die Griechen das nicht?
Warum?
Das fängt beim Klima an. Das ist auch eine ganz andere Tradition. Wir in Holland haben schon seit dem 12. Jahrhundert angefangen, zusammen zu arbeiten. Das ist eine lange Geschichte.
Sind das nicht alte Stereotypen: Die Deutschen arbeiten hart, die Griechen nicht?
Nein, das ist umgekehrt. Sie möchten mir erzählen, die Griechen arbeiten härter und haben wunderbare BWM für die ganze Welt. Diese Klischees sind nicht nur Klischees, sie sind Tatsachen.
Menschen werden erbost sein, wenn sie das lesen: Deutsche sind klüger als Griechen.
Klüger, wenn es darum geht: Wie können wir Produkte machen, die so gut produziert sind, dass Leute im Ausland dieses teure deutsche Produkt kaufen, weil es Made in Germany ist. Das sind die Fakten. Das bedeutet nicht, dass ich die Griechen nicht liebe und es nicht bevorzuge, auf einer griechischen Insel zu sein statt in Nordrhein-Westfalen, und ich liebe Nordrhein-Westfalen.
Die Krise trifft Griechen, auch Spanier sehr hart. Die hohe Arbeitslosigkeit, die Rezession. Haben Sie Mitleid mit ihnen?
Nein, ich habe kein Mitleid. Die Griechen haben uns Jahre lang betrogen. Sie haben uns belogen bei der Wirtschaft, Zahlen gefälscht und kein Politiker ist verurteilt worden. Wir sind auf schreckliche Weise manipuliert und betrogen worden. Die Spanier haben Millionen von Wohneinheiten mit geliehenem Geld gebaut und sie nicht verkaufen können. Und jetzt brauchen die Banken Geld - warum?
Ich meinte Mitleid mit den Menschen.
Ja, die leiden, aber ich habe mit Griechen gesprochen. Die haben alle gesagt: Lass uns das machen. Wir wissen zwar: Etwas stimmt nicht, aber wir zahlen die Rechnung später. Und jetzt rufen sie: Wir möchten überhaupt keine Rechnung zahlen.
Kennen Sie einen Europäer, von dem sie sagen würden: Ja, der ist Europäer.
Wenn ich jemandem begegnen würde, der europäisch spricht. Nein - es gibt keinen Europäer.
Abgesehen von der Sprache.
Dann sind wir alle Europäer, weil wir auf einem Kontinent leben, so wie alle in Asien Asiaten sind.
Ich war gerade in Brügge auf dem College of Europe, und die Studenten sagten: Wenn wir in Amerika sind, merken wir, wie europäisch wir sind. Wir haben andere Werte, eine andere Umweltpolitik, wir wollen einen starken Staat.
Wenn sie Kanadier fragen, kriegen sie die gleichen Antworten, aber es hat nichts mit Europa zu tun. Die Studenten wollen nur Teil dieser supranationalen Elite werden. Das sind Repräsentanten von einer kleinen Oberschicht mit reichlich viel Einfluss und Macht, die uns diese Ideen aufzwingen. Ihr Problem ist, dass die Wirklichkeit ihnen nicht gehorcht. Das ist nicht Europa. Und warum nicht? Nehmen wir zwei Fußballvereine aus zwei Dörfern. Die hassen sich. Im Nachbardorf leben schon die Fremden, und dann sollen wir plötzlich alle zusammen gehören?
Reden Sie von Bloemendaal?
Auch hier. Natürlich. Bloemendaal spielt Rasenhockey. Alle Kinder, auch meine, spielen Hockey. Reisen Sie drei Kilometer weiter nach Zandpoort, ist es Fußball. Aber wir sind ja alle Europäer (er lacht sarkastisch). Wenn meine Kinder gegen Amstelveen oder Amsterdam spielen, sind das die Fremden, die Anderen.
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Das ist Sport, ein Spiel.
Nein, das ist ritualisierter Kampf. Und wir haben gelernt - auch bedingt durch geschichtliche Umstände - mit Fremden zu leben, wir töten die Fremden nicht mehr, ein Gotteswunder. Wir leben miteinander, das ist schon viel.
Wir lieben uns auch. Menschen heiraten über Dörfer und Landesgrenzen hinweg. Ihre Kinder werden jemanden aus Frankreich heiraten.
Wunderbar. Aber lassen Sie uns Zeit nehmen.
Deren Kinder formen dann eine neue Identität. Völker haben sich immer gemischt.
Es ist kein Problem, dass wir einander lieben. Gern. Wenn mein Sohn ein wunderbares spanisches Mädchen heiraten möchte - wunderbar, wenn sie lieb und schön ist. Das ist auch wichtig, und die Chance ist nicht gering: Spanische Frauen sind oft sehr schön. Wunderbar, das ist kein Problem für mich.
Mischen Sie sich in die Euro-Debatte in Holland ein?
Fast jede Woche.
Sie vertreten eine sehr eindeutige Position.
Ich bin die Mehrheit, das ist ganz einfach. Es bedeutet nicht, dass wir auch die politische Mehrheit haben. Das ist das Problem derzeit, überall. Wir erreichen die Grenzen der repräsentativen Demokratie. Wir nähern uns dem Ende dieser wunderbaren Epoche, die notwendig war im 19. Jahrhundert, aber jetzt sind wir alle hochgebildet, wir haben Zeit, wir haben Zugang zu allen Archiven der Welt. Nur ein Knopfdruck - und wir wissen eben so viel wie unsere Repräsentanten. Daraus entstehen die großen Spannungen in Holland. Die repräsentative Demokratie geht wegen der eigenen Erfolge unter.
Das ist ein harter Satz.
Ich sage das oft: Wir sind alle Prinzen der Geschichte. Unglaublich, ein Wunder, was in letzten 60 Jahren oder schon seit der industriellen Revolution zustande kam, ein großes Wunder, aber wir nähern uns jetzt dem Ende.
Und was kommt dann?
Direkte Demokratie.
Wenn wir in Deutschland ein Referendum zu Europa durchführten, würden vermutlich die Euro-Skeptiker gewinnen.
Weil ich das Wort Skeptiker nicht liebe, sage ich: Dissident. Das hört sich positiver an. Dissident gegen eine erpressende Autorität.
Wie reagieren die Holländer auf den Dissidenten de Winter?
Positiv.
Lesen Sie auf der nächsten Seite: Warum de Winter in die USA zieht
Und die Politik?
Negativ. Ich werde beschimpft, ich bin ein Feind, ich bin provinziell, ein Kleinbürger, nur weil ich diesen großen politischen Traum nicht teile.
Was erleben Sie da?
In Aachen haben mich die Leute gehasst auf diesem Europa-Forum. Ich war dort schrecklich allein, aber ich sage, was ich denke. Ich habe da eine Geschichte erzählt über ein Wohnhaus. Also, jemand in diesem Haus hat folgende Idee: Wir verbinden jetzt alle mal unsere Einkommen. Sie sind auf einmal verantwortlich für die Leute in Apartment 3b und sie wissen ja, die saufen viel. Und die anderen da, das wissen Sie auch, die wechseln die ganze Zeit ihren Job. Und dann gibt es einen, der gerade aus dem Gefängnis kam. Aber wir mischen alles zusammen. Sie, habe ich zu den Teilnehmern gesagt, keine Sekunde würden Sie das machen, aber Sie machen das mit einem ganzen Kontinent. Sind Sie verrückt! (de Winter lacht)
Das haben Sie so gesagt?
Hab ich so gesagt. Die liebten mich. (de Winter freut sich wie ein kleines Kind)
Wirklich?
Die haben das gehasst, das waren alle Euro-Fanatiker.
Müssen Sie nicht aufpassen, in die Nähe des Rechtspopulisten Geert Wilders zu geraten?
Ich muss eben so präzise sein, dass man nicht sagen kann: Der hat nicht darüber nachgedacht.
Hätten Sie etwa auch gern den Gulden zurück?
Das wäre für mich kein Problem. Meine Ferien fingen da an, wo ich Lire wechseln konnte. Schau mal, das sieht schön aus, ist ganz anders und all die anderen Zahlen. Die Währung war natürlich nie ein Problem.
Es ist schon sehr angenehm, durch 15 europäische Länder zu reisen und nicht jedes Mal Geld zu wechseln.
Eine Kreditkarte ist auch angenehm.
Sie spielen hier nicht advocatus diaboli, oder? Sie wollen wirklich die alte Währung zurück?
Ich möchte eine gemeinschaftliche Währung mit den Deutschen, ja natürlich.
Nur diese beiden Länder?
Und dazu Österreich.
Soweit gehen Sie?
Ja.
Spüren Sie die Krise hier in Holland überhaupt? Befürchten die Menschen tatsächlich, dass alles kollabiert?
Man spürt Irritation, Frustration, aber dieser Gedanke ist so schrecklich, den lasse nur ich zu, weil es mein Beruf ist, mir das Schreckliche vorzustellen. Aber die meisten Leute natürlich nicht. Damit zu leben, hält man nicht aus. Und das alles wegen dieser blöden Idee, dass wir eine europäische Föderation haben sollten, weil wir glauben, wir können die Globalisierung nur überleben, in dem wir uns zusammen tun. Das Problem ist: Die Deutschen brauchen Europa gar nicht. Die Deutschen machen Produkte, die sind so toll, wir wollen die alle haben. Und die Griechen machen die eben nicht.
Was ist mit den Holländern?
Wir sind ein Bundesstaat, Bundesstaat Nummer 17. Wir haben die längste Grenze mit Deutschland. Wir reden deutsch, es gibt so viele Übereinkünfte. Natürlich gibt es eine andere Tradition, wir leben mit dem Blick aufs Meer, aber was bedeutet Rotterdam ohne das Ruhrgebiet? Wie soll ich überleben ohne meine deutschen Leser? Wir sind unabhängig, authentisch, aber die Deutschen brauchen uns nicht. Wir brauchen die Deutschen.
Sie haben so viel Leidenschaft in dieser Frage der europäischen Zukunft und ziehen jetzt nach Amerika.
Ich denke, dass wir viele Jahre in Amerika bleiben.
Warum?
Weil im Süden Kaliforniens die Palmen wachsen. Das ist schon ziemlich angenehm, wenn man leben kann, wo das Wetter schön ist. Und ich liebe dieses amerikanische Chaos. Im Vergleich zu Holland ist Amerika schlimm organisiert. In Holland und Deutschland weiß man, wie eine Gesellschaft funktioniert. Aber gleichzeitig es hier zu steif und flach, in Amerika gibt es Farbe, ein großes Land mit großen Problemen und großen Horizonten.
Fällt es Ihnen nicht schwer zu gehen?
Doch, es ist die Heimat, hier sind meine Frau und ich aufgewachsen. Wenn man sich vorstellt, wie nah man dem Paradies auf Erden kommen kann, dann ist das hier diese Gegend: Holland, Deutschland, Dänemark. Das ist unglaublich, wenn man die Geschichte betrachtet, wie Menschen tausende Jahre lang hier gelebt haben und dann diese wunderbare Gesellschaft entwickelt haben wie hier im Nordwesten Europas.
Sie wollen also das Paradies verlassen?
Ja. Weil das Paradies dann und wann ziemlich langweilig ist.
Leon de Winter
Jan Christoph Wiechmann ... ist Romanautor und Drehbuchschreiber. Der 58-Jährige gilt als Islamkritiker und Verfechter eines starken Israels.