Bis 1960 drohten in der alten Bunderepublik für „Anreizung zum Klassenkampf“ noch zwei Jahre Gefängnis. Danach übernahm das öffentlich-rechtliche Staatsfernsehen die Ablenkung von naheliegenden Systemfragen. Heute werden die letzten Revoluzzer mit der Googelei nach dem besten Mobilfunktarif davon abgehalten oder lassen auch mal bei Facebook und Twitter Dampf ab. Westdeutsche Hooligans rotten sich dort unter armseligen Vorwänden gegen unrasierte Hipster in Moscheen zusammen. Berufspendler lassen sich gegen einen tapferen Lokanführer aus Sachsen aufhetzen. Jeder gegen jeden – Hauptsache, niemand stellt das große Ganze in Frage. Dafür gibt es schließlich Mauerfall-Dokus. #1989
Das soll kein Vorwurf sein: Westdeutsche wissen eben nur aus dem Fernsehen, was alles möglich ist. Ein paar spüren vielleicht sogar, dass Claus Weselsky als Staatsfeind aufgebaut wird, weil er ihr Grundgesetz verteidigt. Aber dass sich Momos graue Herren längst in die bunten Zeitdiebe aus alten und neuen Medien verwandelt haben und EU-Armeen unterdessen die Niederschlagung künftiger Aufstände vorbereiten, geht den meisten zu weit. Deshalb wird auch der erste weinerliche Einwand wieder sein, wieso so ein Ostzonenkind überhaupt Momo gelesen hat. #SchnauzeWessi!
Stehengebliebenes Weltbild
Bücher und Zeitschriften fanden immer einen Weg über die Mauer. Nur wurden sie auf der Seite, wo angeblich Freiheit herrschte, offenbar kaum verstanden. Würden sonst Leute, die früher Momo liebten, heute eine Riester-Rente abschließen und bis dahin für einen Zigarre rauchenden Tagedieb arbeiten, der sich auch noch euphemistisch Arbeitgeber nennt? Müsste nach „1984“ nicht jeder über Wieselwörter wie „Wettbewerbsfähigkeit“ oder „Freihandelsabkommen“ stolpern? Von „sozialer Marktwirtschaft“ gar nicht mehr zu reden? #Orwell
In der DDR war „Neusprech“ praktisch Amtssprache. Jedes Kind hatte „doublethink“ verinnerlicht, irgendwann durchschaut - und viele hatten genau das 1989 satt. Wer so einen Systemwechsel bei geistiger Gesundheit überlebt, verwechselt „den Einsatz militärischer Mittel“ auch heute nicht mit „Verantwortung“ oder 2014 mit 1984. Für Westler dagegen scheint die Welt damals stehen geblieben zu sein. Immer noch gilt: Russland – doppelplusungut; Nato, EU und USA– doppelplusgut. Sie stutzen nicht mal, wenn von einem neuen „Kalten Krieg“ zwischen Ost und West die Rede ist, bei dem sich in Wahrheit keine ideologischen, sondern ganz ähnlich tickende Zeitbomben mir rein wirtschaftlichen Machtansprüchen gegenüber stehen. Wenn wegen ein paar Hooligans, die weder im Stadion noch im nahen Osten und schon gar nicht auf deutschen Straßen viel mit Salafisten zu tun haben, Demonstrationsverbote laut werden. Oder wenn ein Mindesthungerlohn „Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie“ heißt.
Sie schreiben zwar gern Leserbriefe oder nicken bei binsenweisen Büchern über „Die große Volksverarsche“, in dem ein Schauspieler erklärt, „wie uns Industrie und Medien zum Narren halten“. Wer es sich leisten kann, lässt sich danach mit noch fairer gehandelten Bio-Siegeln, erneuerbaren Energie-Gesetz-Novellen und angeblichen Finanzmarktregulierungen veralbern. Aber um wirklich etwas zu ändern, sind Westler immer noch viel zu zufrieden mit sich selbst. Sie sind nicht das Volk, sondern alle nur Volksschauspieler.
Was macht eigentlich Herrn Snowden? Wie geht es den Straßenhunden in der Ukraine heute, die vor drei Jahren fast zu einem EM-Boykott geführt hätten? Kümmert sich noch jemand um die Fleischgewordenen Herrenwitze der FDP? Die kleinen und großen Empörungen kommen in Wellen und gehen im nächsten #Aufschrei genau so schnell wieder unter.
Aufregung ebbt schnell ab
Ein paar Wochen demonstrieren sie gegen einen neuen Bahnhof, aber dann wird er eben doch gebaut. Was soll man auch von einer Revolte erwarten, die sich vor Gericht wegen Busverspätungen um den genehmigten Ort streitet?! Hätten die Leipziger 1989 ihre Montagsdemos angemeldet, wäre dort heute immer noch Donnerstag. #Stuttgart21
Viele Westdeutsche scheinen sich zwar nach „Entschleunigung“, Car-Sharing und zumindest bei ihrem Gemüse nach antikapitalistischen Genossenschaftsgefühlen zu sehnen. Aber statt an Sabotage denken sie lieber an ihr nächstes Sabbat-Jahr. Statt an einen anständigen Bummelstreik, wenn trotz Gewinnen massenhaft Kollegen entlassen werden, an die nächste Rate für die Eigentumswohnung. #Brigitte
Mietpreisbremse
In Hamburg oder München stehen obdachlose Akademiker brav für eine kleine Wohnung Schlange, wenn die Kaltmiete unter 2000 Euro liegt, oder weichen – noch schlimmer - massenhaft nach Leipzig aus. Schon jetzt muss ich mir hier mit meiner Klein-Familie 230 Quadratmeter teilen, aber hört man uns klagen?! #Mietpreisbremse – lächerlich: Als wenn sich Gier in eine 30er-Zone verwandeln ließe! Stellt vielleicht mal jemand die grundsätzliche Frage, ob es etwas Niederträchtigeres gibt, als davon zu leben, dass andere eine Wohnung brauchen? Als ehemaliger Volkseigentümer fällt mir dazu nur ein Hashtag ein: #Enteignung
Aber diese angepassten Duckmäuser lassen sogar ihre Kinder beizeiten gefügig machen. Stopfen sie mit Ritalin gegen erfundene Krankheiten voll. Und möglicherweise hat es sogar ähnliche Ursachen, warum im Westen schon vor 1989 mehr Psychiatrie-Patienten geschlossen untergebracht waren als im Osten, wie ich erstaunt in einer #link;www.aerzteblatt.de/archiv/54102;Ärztezeitung# las. #Depression
Mit etwas guter Laune kann man dem sicher entgegenhalten, dass die DDR eine einzige geschlossene Anstalt war. Aber das Massenphänomen im alten Westen hat noch einen verrückteren Grund: Die Leute ließen sich dort öfter freiwillig einweisen, weil sie wenigstens pro Forma – also, um den äußeren Schein zu wahren - mit Zwangseinweisungen nichts zu tun haben wollten. Dass muss man sich mal wie eine Faustan auf der Zunge zergehen lassen! Inzwischen wird aber auch im Westen offiziell öfter zwangsweise eingewiesen. Das Risiko im Osten, so #link;www.taz.de/Zwangseinweisungen-in-die-Psychiatrie/!101975/; neuere Statistiken#, ist jedenfalls deutlich niedriger. #Mollath
Bedrohte Pressefreiheit
Gemessen am Geschrei um die verhinderte Vertragsverlängerung eines ZDF-Chefredakteurs durch Politiker ist es um die seinerzeit akut bedrohte Pressefreiheit schnell wieder ruhig geworden. #Staatsfernsehen. Nach jahrzehntelangem Streit über Lauschangriff und Vorratsdaten, gilt die totale Erfassung von Telekommunikation seit ein paar Monaten nicht mehr als Symptom einer totalen Diktatur mehr, sondern als Zeichen für eine wehrhafte Demokratie. Notfalls kann man ja auch eine Online-Petition gegen staatlich geförderten Naziterror unterschreiben. #NSU #NSA #Chlorhuhn #Vogelgrippe #PferdeDöner #Gammelfleisch – na und? Etliche halbverhungerte Menschen haben sich vor 25 Jahren immerhin auch die BRD als freie Demokratie unterjubeln lassen. #Gauck
Westdeutsche jammern mehr
Damals haben wir auch im Osten noch alles gedankenlos eingeworfen, was aus dem Westen kam? Smarties, TicTac, das Grundgesetz... Was soll also diese gespielte Empörung über Menschenversuche westdeutscher Pharmakonzerne in der DDR? Kann man sich nicht einfach mal freuen, dass wir seit 1989 auch beinahe richtige Deutsche sind - und neue Medikamente nun in Afrika und Rumänien getestet werden?
Westdeutsche jammern zwar mehr als die sprichwörtlichen „Jammer-Ossis“, die den millionenfachen Verlust von Arbeit, Häuschen und Selbstachtung in vergleichsweise stillem Zorn ertrugen. Aber auf die Idee, ihren Arzt oder Apotheker einfach mal zu fragen, bei welchem Konzern diese Leute Treuepunkte sammeln, kommen sie nicht. #Opfer
Lieber sammeln sie selbst #Bonusmeilen, #HappyDigits und #Wutbürger-Likes. Sie können nicht mal leise klagen, nur laut oder laut –dazwischen ist nichts. Und wenn bald Streik- und Demonstrationsrechte eingeschränkt werden oder die Russen nach dem nächsten Krieg ganz Deutschland besetzen, werden sie sicher auch kurz aufjaulen – und sich dann arrangieren. Hauptsache, die Gasheizung läuft weiter und der Zug kommt pünktlich. Was soll man dazu sagen – außer: Heul doch, Westen!