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Reise durchs Gastgeberland Wenn Stalingrad für einen Tag wieder aufersteht

Russland: Die Werkstatt des Clubs ist voll mit alten Kanistern, Panzerketten, Kühlerhauben, Schrauben.
Russland, Wolgograd: Die Werkstatt der Rekonstrukteure des Klubs "Pechotinez" ist voll mit alten Kanistern, Panzerketten, Kühlerhauben, Schrauben. Sogar ein Panzer wurde hier schon zusammengebaut.
© Tamina-Florentine Zuch
Teil 4 unserer Russland-Serie: 490. Kilometer der Wolga, Wolgograd. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand hier kein Stein mehr auf dem anderen. Der Name dieser Stadt wurde zum Synonym dessen, was der Mensch dem Menschen antun kann. Wolgograd hieß nämlich früher anders.

Über dem Fluss, auf dem Mamajew-Hügel, reckt Mutter Heimat ihr Schwert in den Himmel. Von Nahem wirkt die Frauengestalt mit dem schmerzverzerrten Gesicht fast ein wenig furchteinflößend, aber auf diesem Hügel geht es ja um Schmerz und Furcht. Bis heute weiß niemand genau, wie viele Hunderttausend Menschen während einer der längsten und blutigsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs starben. Auf dem Mamajew-Hügel waren es allein Zehntausende. Wolgograd ist das ehemalige Stalingrad. 

Von der Statue aus ist die Wolga zu sehen, als breiter Strom zieht sie sich durch die Stadt. Um den Fluss ging es Hitler damals, als seine Truppen 1942 die Stadt angriffen: Die Sowjets versorgten über die Wolga ihre Truppen. Insgesamt warf die Wehrmacht ungefähr eine Million Bomben über der Stadt ab. "Die Faschisten wollten die Wolga sehen", steht heute auf der Gedenkstätte über einem Bild mit deutschen Kriegsgefangenen. "Die Rote Armee gab ihnen die Möglichkeit dazu". 

Heute wird keine andere russische Gedenkstätte so häufig besucht wie der Mamajew-Hügel. Am 9. Mai, dem Tag des Sieges, schieben sich hunderte Besucher zu der Statue. Viele haben ihre Kinder in Uniformen gekleidet, tragen Militärmützen und schwenken Fahnen. Um den Sieg geht es heute, den Triumph, weniger um Trauer. Die Stadt heißt an diesem Tag offiziell sogar Stalingrad, zu Ehren des Kriegsherrn, den heute wieder viele Russen verehren.

Der stern sprach mit Sinaida Kriulina und  Deja Wrasowa, die den krieg erlebt und überlebt haben. Und mit Anatolij Artamonow, einem Mann, der den Krrieg wieder erklebbar macht. 

Wie sich die Menschen an den Krieg erinnern: Sinaida Kriulina, 83

"Denke ich an den Krieg, fällt mir als erstes der Hunger ein. Wir waren so hungrig, dass wir Lehm gegessen haben. Und Gras. Und Erde. Wir haben gebrauchte Teeblätter gegessen. Einmal bin ich ohnmächtig geworden vor Hunger. Manchmal hat meine Mutter für mich und meine Geschwister um Brotkrümel gebettelt. Sie hat die Brösel mit einem Löffel unter uns Kindern aufgeteilt, jeder bekam ein winziges Häuflein. Es war das größte Glück!

Mein Vater war Chef des kleinen Bahnhofs von Beketowka, eines Vorortes von Stalingrad. Wir haben in dem winzigen Häuschen direkt neben dem Bahnhofsgebäude gewohnt. Ich erinnere mich noch an die ersten Bomben. Die Menschen warteten gerade auf einen Zug. Auf dem Gleis lagen danach Beine und Köpfe. Blut war überall. Viele Leute rannten in unser Haus vor Angst. Alle Fenster waren herausgeflogen. Später haben wir uns alle unter dem Tisch versteckt, wenn die Bomben fielen. Ich weiß noch, wie das Geräusch klingt, wenn die Flugzeuge kamen. Wir werden uns alle daran erinnern bis zu unserem Tod. 

Mein Vater meldete sich als Freiwilliger in den Krieg. Ich lag wegen einer Infektion im Krankenhaus, als er kam, um sich zu verabschieden. Er trug schon eine Uniform. Er nahm er mich auf den Arm und hielt mich ganz fest. Es war schon Herbst, es war dunkel und kalt. Wir haben ihn nie wieder gesehen und auch nie erfahren, wo er gestorben ist. 

Meine Mutter floh mit mir und meinem Bruder vor den Bomben nach Sibirien in den Altai. Dort waren wir nicht die einzigen Flüchtlinge. Niemand hatte Platz für uns. Deshalb lebten wir in einem Pferdestall. Nachts haben wir in einem Futtertrog geschlafen. Tags war er unser Tisch. Meine Mutter arbeitete tagsüber in einer Sowchose, um uns zu versorgen. 

Als wir nach dem Ende der Kämpfe nach Stalingrad zurückkehrten, lebten in unserem Haus schon andere, die ihre Wohnungen in den Bomben verloren hatten. Wir kamen im Winter an, aber ich besaß nicht einmal Schuhe und Strümpfe. Wir schliefen dann auf dem Boden auf der Türschwelle. Eine Zeit lang schlief ich bei Nachbarn in einer Truhe. 

Vor dem Haus lagen, saßen und standen überall Kriegsgefangene. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie angefeindet wurden. Sie waren so schwach. Manche bettelten sogar uns Kinder an. 'Gib mir ein Stück Brot!' Einer hat mir einen Ring aus weißem Metall geschenkt. Ich war sehr stolz. 

Nach dem Krieg war das ganze Leben zerstört. Durcheinander. Unsere Stadt war kaputt. Ich bin erst mit zehn Jahren in die Schule gekommen. Mein Bruder musste schon mit 15 Jahren arbeiten. Er wurde Heizer in einem Zug. Ich habe Zugtickets verkauft. Später war ich auf der Abendschule und bin Kindergärtnerin geworden. 

Das Leben war nie sorglos. 'Volk und Partei sind eins', hieß es ja in der Sowjetunion immer. Aber wenn wir eins sind, fragte ich mich immer, warum leben wir dann so schlecht? 

Meinen ersten Mann habe ich aus einem Zufall heraus geheiratet. Ich bekam Zwillinge, sie starben mit drei Monaten. Wir hatten nicht einmal Geld für einen Sarg. Mein Mann trank und schlug mich. Ich hielt so lange aus, wie es ging. Dann verließ ich ihn.

Mein zweiter Mann war sehr begabt, er hat das Porträt über meinem Bett gemalt, das ich sehr liebe. Aber manchmal war auch er Wochen lang betrunken.

Sinaida Kriulina in ihrem Zimmer. Das Porträt, das ihr zweiter Mann gemalt hat, hängt auf der Wand.
Sinaida Kriulina in ihrem Zimmer. Das Porträt, das ihr zweiter Mann gemalt hat, hängt auf der Wand.
© Tamina-Florentine Zuch

Meine Rente ist sehr klein, ich habe eine Wohnung mit einem Zimmer. Dabei habe ich gearbeitet, bis ich 72 Jahre alt war. Fast 50 Jahre lang. Dann konnte ich nicht mehr. Ich weiß nicht, wann das Leben wirklich leicht war für uns. Meine Familie hatte es immer schwer. Aber wir haben jetzt Frieden. Und wir haben Brot."

Wie die Stadt heute den Krieg vergisst: Deja Wrasowa, 74 

"Nach dem Krieg war hier das Zentrum der Stadt", sagt die Stadtteil-Historikerin Deja Wrasowa. "Jetzt haben uns alle vergessen." Auch Wrasowa ist ein Kriegskind. Ihr ganzes Leben verbrachte sie in Beketowka, dem südlichsten Stadtteil Wolgograds, dem einzigen, den die Deutschen nie erobert hatten. Als "Such-Oma" ist sie hier bekannt: Weil sie Geschichten aus dem Krieg sucht. Und weil sie Menschen bei der Suche nach Menschen hilft, nach Verschollenen und Vergessenen. Andere nennen sie "Panzer im Rock": Weil sie so energisch ist, so unerschrocken, weil nichts sie bremsen kann, wenn sie etwas will.  

Wrasowa liebt ihr Viertel, aber in den vergangenen Jahren gefällt es ihr nicht mehr. Sie zeigt: Die Brotfabrik – geschlossen. Der Gastronom im historischen Wohnhaus – leer. Der Club, das alte Kino, die Kunstschule – alles zu. Die Straßen sind aufgeschlagen. Im Kulturhaus tropft es auf die Bühne, wenn es regnet. Vom alten Wohnhaus brechen fast die Balkone hinunter. "Gefährliche Zone", steht auf Schildern darunter. Der Buchladen ist mit Brettern verrammelt.

Je länger sie läuft, desto ungehaltener wird Wrasowa. "Es sieht aus, als sei hier jetzt wieder Krieg!" ruft sie aus. "Ein Krieg ums Überleben!" Der Sportplatz ist zugewuchert, der Boden in der Fußballhalle morsch. "Dabei gab es in Beketowka ein historisches Spiel!", sagt Wrasowa. "Mitten im Krieg, drei Monate nach der Schlacht. Moskau gegen Stalingrad. Ein Spiel auf Ruinen!"

Zum Schluss zeigt sie noch den großen Kulturpalast, der wenige Jahre vor dem Krieg errichtet wurde. Es ist ein weißes Gebäude mit großen Säulen am Eingang. Nach dem Ende der Schlacht kam hier die Stadtverwaltung Stalingrads unter, denn im Zentrum war alles zerstört. Später traten hier sowjetische Sänger und Schauspieler auf, es war der Mittelpunkt des kulturellen Lebens von Beketowka. Die russische Webseite, auf der die WM-Städte vorgestellt werden, preist den alten Palast sogar als eines der "markantesten Beispiele für die Architektur der 30-er und 50-er Jahre" an.#

Deja ist Kriegsüberlebende und verbringt ihre Rente mit der Erhaltung der Erinnerungen an den zweiten Weltkrieg, hier fotografiert im Kulturhaus im Stadtviertel Beketowa.
Deja ist Kriegsüberlebende und verbringt ihre Rente mit der Erhaltung der Erinnerungen an den zweiten Weltkrieg, hier fotografiert im Kulturhaus im Stadtviertel Beketowa.
© Tamina-Florentine Zuch

Dabei ist es beinahe eine Ruine, mit Brettern vernagelt und Graffiti beschmiert. Sie klopft ans Fenster, damit der Wächter sie einlässt. Schon vor sechs Jahren sprach Wrasowa Wladimir Putin in einer Bürgerfragestunde auf das historische Gebäude an. Geld versprach er damals, aber es passierte dennoch nichts. "Wir leben doch in der Heldenstadt Wolgograd!", sagt sie. "Aber unsere Denkmäler sehen aus wie Ruinen!"

Wrasowa läuft die Treppen hinauf, unter dem alten Kronleuchter hindurch, sie kennt hier jeden Winkel. Vor ein paar Jahren übte sie hier noch mit ihrem Chor, bei Kerzenschein, weil der Strom schon abgestellt war. Das war im Konzertsaal. In der Decke ist jetzt ein Loch. Der Stuck fällt herunter. Im Orchestergraben steht noch das Klavier, Wrasowa kann es selbst kaum glauben. Es ist eingequetscht den Trümmern.

Wie man in Russland heute an den Krieg erinnert: Anatolij Artamonow

Wir fahren in einem Auto aus Schrott. Anatolij Artamonow startet es mit einem Schraubenzieher, dann ruckeln wir langsam los. Passanten ziehen Handys heraus und fotografieren, denn wir sind in einem Lastwagen aus den 30-er Jahren unterwegs, ins Museum "Staraja Sarepta" am Stadtrand von Wolgograd. Artamonow hat hier seine Werkstatt, die dazu da ist, den Krieg begreifbar zu machen.

"Die Erde rund um unsere Stadt ist mit Blut getränkt", sagt Artamonow, der eigentlich Volkswirtschaftler ist. "Als Kinder haben wir Patronenhülsen gesammelt, die draußen bis heute herumliegen. Wir sind mit dem Krieg aufgewachsen." Die Spuren sind immer noch da. Im Sommer heben Suchtrupps Tote aus, die verschüttet auf den ehemaligen Schlachtfeldern liegen. Bis heute rostet dort auch Müll des Krieges. Als Altmetall landet er oft bei Schrotthändlern. Die rufen dann bei Artamonow an. In seiner Werkstatt liegen alte Kanister, Panzerketten, Kühlerhauben, Schrauben. Sogar einen Panzer baute er schon nach, montierte den alten Schrott ein.   

Sein Bruder Anton näht alte Uniformen. "Erst haben wir die Entwürfe einem Schneider gegeben", sagt Artamonow. "Dann haben wir beschlossen, es lieber selbst zu machen." Auch so begreifen sie den Krieg: Die deutschen Soldaten der Wehrmacht trugen bei minus 40 Grad dünne Jacken, fütterten sie notdürftig mit Zeitungspapier aus.

Irgendwann begannen sie, Schlachten nachzuspielen. Zu ihrem Klub "Infanteriesoldat" gehören mehr als hundert Aktivisten. Es ist ein teures Hobby: Die originalgetreue Uniform eines Wehrmachtsoldaten kostet umgerechnet mehr als tausend Euro, die sowjetischen etwa die Hälfte. Vor der zerfallenen alten Senffabrik, gebaut unter Jekaterina II, zeigen sie einmal im Jahr, wie kurz vor Kriegsende in Berlin gekämpft wurde. Sogar deutsche Straßenschilder haben sie sich besorgt. 

Dabei soll es nicht um Glorifizieren des Krieges gehen. Eher um das Gegenteil: "Wir zerstören Mythen", sagt Artamonow. Dreckig, blutig und schmerzhaft ist der Krieg in den Schauspielen. "Viele Leute kommen und erwarten ein Fest", sagt er. "Das wollen wir nicht."

Die Behörden unterstützen den Club nicht, Geld vom Staat bekommen sie nicht. Ihr Büro in der Stadt mussten sie aufgeben, weil die Miete plötzlich um das Zehnfache erhöht wurde. "Die Stadt erinnert sich doch nur einmal im Jahr an den 9.Mai", sagt Artamonow. "Nämlich am 9. Mai."

 Der fünfte Teil der Reportage führt nach Zürich, das einst an der Wolga lag. 
Prolog / Teil 1 / Teil 2/ Teil 3/ Teil 4 / Teil 5Teil 6 / Teil 7 / Teil 8 / Teil 9 / Teil 10 / Teil 11 / Teil 12 / Teil 13 /
Tamina-Florentine Zuch

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