Nach dem "Nein" zum Lissabon-Vertrag Zwischen Cholera und Kerneuropa

Nach dem irischen "Nein" zum Reformvertrag von Lissabon stehen die Staats- und Regierungschefs der EU vor einem Scherbenhaufen. Wie es nun weiter gehen soll, weiß keiner so genau. stern.de beantwortet die wichtigsten Fragen rund um die neue Sinnkrise in Europa.
Von David Meiländer

Dass Wahrsager nie die Wahrheit sagen, ist eine alte Weisheit. Dass aber ausgerechnet die irischen Umfrageinstitute falsch liegen könnten, hatte kaum jemand erwartet. Zwar registrierten die Demoskopen kurz vor der Abstimmung einen starken Zuwachs bei den Reform-Gegnern, doch nur ein einziges Institut sah sie vor den Befürwortern.

Drei Millionen Wahlberechtigte waren zur Abstimmung über den EU-Vertrag aufgerufen und votierten am Ende nicht über Abstimmungsverfahren und Stukturveränderungen , sondern lieber über Fischereiverbote und Abtreibung. "Es ging eindeutig um innenpolitische Fragen", sagt der Studienleiter an der Europäischen Akademie in Berlin, Jaroslav Sonka.

Enttäuschung und Trotz

Die Entscheidung der Iren hat die Staats- und Regierungschefs kalt erwischt. Entsprechend enttäuscht und vereinzelt auch ein bisschen trotzig reagierten sie. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier etwa sagte in einer ersten Erklärung, eventuell müsse man nun überlegen, für eine Weile ohne Irland weiter zu machen und erntete dafür scharfe Kritik vom Luxemburger Ministerpräsidenten Jean-Claude Juncker.

In Brüssel kommen die Staats- und Regierungschefs nun zusammen, um über die Zukunft des Vertrags von Lissabon zu beraten. Wie es weiter gehen soll, weiß noch keiner so genau. Eins aber ist klar: Ohne eine Strukturreform ist die Europäische Union auf lange Sicht kaum noch handlungsfähig.

Die Antworten auf die wichtigsten Fragen zum "Nein" der Iren und der Zukunft Europas hat stern.de zusammengefasst.

Warum haben die Iren mit "Nein" abgestimmt?

Die Iren haben am 12. Juni nicht ausschließlich über den Reformvertrag abgestimmt. "Der Wahlkampf war sowohl auf innenpolitische, als auch auf Sachen gemünzt, die gar nichts mit dem Vertrag zu tun hatten", sagt Sarah Seeger, die sich am Zentrum für Angewandte Politikforschung in München mit Europapolitik beschäftigt. So diskutierte Irland im Vorfeld des Referendums über Fischerei- und Abtreibungsverbote oder den mittlerweile zurückgetretenen Ministerpräsidenten Bertie Ahern, der über verdächtige Geldgeschäfte in den 90er Jahren gestolpert war. Alles Punkte, die mit dem Lissabonner Vertrag nichts zu tun haben. "Die wenige Kritik, die das eigentlich Thema betraf, richtete sich gegen die mangelnde Demokratiestruktur in Europa", sagt Seeger. "Aber sonderlich seriös war das nicht. Der Vertrag ist natürlich nur ein Kompromiss. Da ist es leicht, Kritik zu üben. Notwendig ist er dennoch."

Kann Irland seine Meinung noch ändern?

Aus europäischer Sicht können die Iren so oft abstimmen, wie sie wollen. Entscheidend ist nur, dass das Vertragswerk irgendwann in den nächsten Monaten ratifiziert wird. Ein zweites Referendum um jeden Preis, da sind sich viele EU-Experten einig, ist aber der falsche Weg. "Man muss dem Land jetzt erstmal Zeit geben", meint zum Beispiel der Studienleiter der Europäischen Akademie Berlin, Jaroslav Sonka. "Entscheidend ist, dass man den Kritikern des Vertrages jetzt auch inhaltlich entgegen kommt." Die Staats- und Regierungschefs wollen jetzt Zeit gewinnen. Deshalb kündigten sie an, beim EU-Gipfel keine endgültigen Lösungen finden und vorschlagen zu wollen. Klar ist aber, wen sie derzeit im Zugzwang sehen. "Irland bekommt die Zeit für Vorschläge im Laufe des Jahres", sagte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier. Die Kritiker des Vertrages in Irland zu überzeugen, könnte allerdings schwer werden. Politische Beobachter sind sich einig darüber, dass das Votum gegen den EU-Vertrag mit dessen Inhalten wenig zu tun hat. "Insofern stehen die Mitglieder des Europäischen Rats jetzt vor der Herausforderungen, zu erahnen, was die irische Bevölkerung umstimmen könne", so Sonka. "Das können auch Zugeständnisse auf ganz anderen politischen Themenfeldern sein."

Gibt es noch weitere Skeptiker?

Ja, auch in Deutschland. Der CSU-Abgeordneter Peter Gauweiler hat vor einem Monat gegen den Reformvertrag Klage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Er will verhindern, dass die Bundesrepublik weiter Kompetenzen nach Brüssel abgibt und sich damit selbst Stück für Stück zu Gunsten eines "europäischen Bundesstaats" auflöst. Politisch steht Gauweiler hierzulande ziemlich alleine da, in anderen Ländern ist die Ablehnung gegen die EU deutlich größer.

In Tschechien etwa kommt das irische Referendum den Regierungsparteien sehr entgegen. Das Land gilt als Wackelkandidat im Bezug auf den Vertrag. Entsprechend klar sind die öffentlichen Äußerungen der tschechischen Amtsträger. Staatspräsident Vaclav Klaus erklärte das Vertragswerk bereits öffentlich für "tot" und Außenminister Karl Schwarzenberg sagte im Interview mit dem österreichischen Standard, den anstehenden Ratifizierungsprozess nicht fortsetzen zu wollen. "Man kann generell beobachten, dass die Skepsis an Europa in den vergangenen Jahren zugenommen hat", sagt Sarah Seeger, Politologin an der Universität München. "Immer mehr Bereiche des täglichen Lebens werden in Brüssel entschieden . Das wird bei einigen als Bedrohung angesehen." Auch der Studienleiter an der Europäischen Akademie Berlin, Jaroslav Sonka stellt einen Mentalitätswechsel fest. "Die alte Begründung, Europa stehe für Frieden und Werte, zieht nicht mehr", sagt er. "Es ist auch eine Frage der Öffentlichkeitsarbeit. Wenn die EU-Abgeordneten und auch die nationalen Regierungen in ihrem Land nicht offensiv für Europa werben, wird die Skepsis noch größer werden."

Ist der Lissabonner Vertrag jetzt gescheitert?

Eins ist klar: Ohne die irische Zustimmung kann der Vertrag nicht in Kraft treten. Denn damit das passiert, müssen ihn alle Mitgliedsländer ratifizieren. Einige, wie etwa Tschechien, wollen diesen Prozess nun erst einmal auf Eis legen, bis für das "Nein" der Iren eine adäquate Lösung gefunden worden ist. "Das wird in diesem Jahr aber auf keinen Fall mehr passieren", sagt Jaroslav Sonka von der Europäischen Akademie in Berlin. Er könnte sich aber vorstellen, dass - wenn kein Mitgliedsstaat abspringt - der Lissabonner Vertrag schon im Sommer 2008 in leicht abgeänderter Form Gültigkeit erlangen könnte.

Warum setzen die Mitgliedsstaaten die Ratifizierung fort?

In einem waren sich Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatschef Nicolas Sarkozy in dieser Woche einig. "Wir erwarten, dass die anderen Mitgliedstaaten ihre innerstaatlichen Ratifizierungsverfahren weiterführen", sagten sie in einer gemeinsamen Erklärung. Nicht alle Regierungschefs in der Europäischen Union sind damit einverstanden. Zumindest aus juristischer Sicht haben die Kritiker an Merkels und Sarkozys Vorgehen recht. Denn egal, ob am Ende alle übrigen 26 Länder zustimmen - ohne Irlands "Ja" wird aus dem Reformvertrag nichts. Das weiß natürlich auch die Bundeskanzlerin. "Es geht hier in erster Linie um Symbolik", sagt Sarah Seeger, Politikwissenschaftlerin an der Universität München. "Es ist so eine Art Signal, dass alle hinter der Vereinbarung stehen." Die Staats- und Regierungschefs haben aber auch die Hoffnung, dass sie den Lissabonner Vertrag mit ein paar kleinen Änderungen zu Gunsten der Iren retten können. "Es gibt juristische Tricks, mit denen man die Vereinbarung modifizieren kann, ohne dass sie noch einmal ratifiziert werden muss", sagt Seeger. Über so genannte Zusatzvereinbarungen können auf zwischenstaatlicher Ebene Zugeständnisse gemacht werden, ohne das die nationalen Parlamente noch einmal gefragt werden müssen. "Eins ist nämlich klar", weiß Seeger. "Wenn dieser Vertrag nicht gerettet werden kann, wird es vermutlich keine gemeinsame Lösung mehr geben." Erstes Opfer dieser Entwicklung wären die, die sie angestoßen haben: die Iren.

Kann die EU Irland einfach rauswerfen?

Nein. Ein Austritt oder gar ein Rauswurf aus der Europäischen Union ist nach derzeitigem Vertragsrecht nicht möglich. "Rein völkerrechtlich könnten die Iren den Vertrag natürlich aufkündigen", sagt Sarah Seeger, die an der Universität München über Europäische Politik forscht. "Aber sie wären ganz schön blöd, wenn sie das machen würden. Schließlich profitieren sie und ihre Wirtschaft von der Europäischen Union, nicht zuletzt durch den gemeinsamen Binnenmarkt." Möglich ist aber, dass sich einzelne Mitgliedsstaaten innerhalb der Europäischen Union zu einer "verstärkten Zusammenarbeit" zusammenschließen. "Im Vertrag von Nizza gibt es einen Paragraphen über die so genannte verstärkte Zusammenarbeit", erklärt der Studienleiter der Europäischen Akademie, Berlin, Jaroslav Sonka. "Einige Länder einigen sich darüber, in bestimmten Bereichen noch enger zu kooperieren, als mit den anderen."

Braucht Europa den Reformvertrag überhaupt?

Unbedingt. Denn die Gemeinschaft platzt aus allen Nähten. "Der Vertrag von Nizza kann die tägliche Arbeit für die 27 Mitglieder gerade noch regeln", sagt Sarah Seeger von der Universität München. "Wenn jetzt noch ein Mitglied beitreten würde, würde es kaum noch funktionieren." Vor allem hinsichtlich der Abstimmungsmodalitäten im Ministerrat. "Weil viele Entscheidungen heutzutage noch einstimmig gefällt werden müssen, sind viele Entscheidungen nicht mehr als ein schlechter Kompromiss", sagt Seeger. Einzelne Staaten bekämen die Möglichkeit, Gesetzesvorhaben zu blockieren. Dem sollte das Prinzip der doppelten Mehrheit Abhilfe leisten. Hier könnten auch einzelne Mitgliedsstaaten überstimmt werden. Aber weil vor allem Deutschland Sorgen hatte, von vielen kleinen Ländern überstimmt zu werden, gibt es auch hier einige Einschränkungen: Ein Beschluss gälte als getroffen, wenn 55 Prozent der Mitglieder zustimmen, die mindestens 65 Prozent der europäischen Bevölkerung vertreten. "Statistiker haben ausgerechnet, dass die Möglichkeit, dass ein Land eine Abstimmung blockiert, so unwahrscheinlich werden würde", sagt Sarah Seeger. Zu viele Köche verderben den Brei. Deshalb sieht der Lissabonner Vertrag auch vor, die Europäische Kommission zu verschlanken. Bislang steht jedem EU-Mitglied ein Kommissionsposten, samt eigenem Verantwortungsbereich und entsprechend großer Verwaltung zu. Ab 2014 sollten nur noch zwei Drittel der Mitgliedsstaaten ein Mitglied in das Gremium entsenden dürfen. Wer darf und wer nicht, wird nach dem Rotationsverfahren entschieden. Hat ein Land zwei Amtszeiten lang einen Kommissar in Brüssel gehabt, muss es für eine Periode aussetzen.

Was ist das "Kerneuropa"

"Kerneuropa" ist nicht geografisch gemeint, vielmehr politisch. Er wird immer wieder ins Spiel gebracht, wenn sich die Mitgliedsstaaten in der Europäischen Union nicht darüber einig werden können, wie intensiv sie zusammenarbeiten sollen. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Karl Lamers und der amtierende Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble prägten diesen Begriff 1994. Ihre Idee: Wenn einige Staaten zum Beispiel in der Außen- und Sicherheitspolitik, könnten sie eine Art Gemeinschaft in der Gemeinschaft gründen, die freiwillig und offen für alle anderen Mitglieder ist. So könnten die Skeptiker die Integrationsbefürworter nicht blockieren und - falls sie ihre Meinung ändern - später noch dazustoßen.

Zum Tragen kam diese Idee, die eng mit dem ebenfalls oft genannten "Europa der zwei Geschwindigkeiten" zusammen hängt, zum Beispiel beim Schengener Abkommen oder der Euro-Freihandelszone. Ob ein Kerneuropa deshalb schon heute besteht und wer dazu gehört, ist umstritten. Klar ist aber, dass sowohl Deutschland, als auch Frankreich zu einer solchen verstärkten Zusammenarbeit bereit wären. Auch jetzt, nach dem "Nein" der Iren,wird wieder darüber diskutiert. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier sagte, eine Lösung könne sein, dass Irland für eine Zeit "aus der EU aussteige". Der Präsident des EU-Parlaments, Hans-Gert Pöttering, wurde sogar noch deutlicher: "Wir brauchen eine Debatte über die Zukunft Europas. Darin wird der Gedanke eines Europas der zwei Geschwindigkeiten, in dem ein Kern von Mitgliedern voranschreitet, eine Rolle spielen."

Eine engere Zusammenarbeit könnte zum Beispiel auf der Ebene von Außen- und Sicherheitspolitik geschehen, aber für die großen bürokratischen Probleme der Gemeinschaft bietet diese Variante keine vernünftigen Lösungen. "Es wäre zudem auch ein Abschied von dem Integrationskurs der vergangenen Jahre", sagt Sarah Seeger, Politikwissenschaftlerin an der Universität München. "Wenn es die Staats- und Regierungschefs aber nicht hinkriegen, den Lissabonner Vertrag zu retten, ist ein Kerneuropa die wahrscheinlichste Alternative."

Welche Konsequenzen hat das "Nein" für die EU-Erweiterung?

Der Präsident des EU-Parlaments brachte es auf den Punkt: So lange der Reformvertrag nicht in Kraft sei, könne es - mit Ausnahme Kroatiens - keinen weiteren Beitritt zur EU geben. "Der Vertrag von Nizza, der derzeit gilt, ist für eine Erweiterung tatsächlich vollkommen ungeeignet", sagt Jaroslav Sonka, Studienleiter an der Europäischen Akademie in Berlin. Dennoch hält er die Aussagen des Parlamentspräsidenten für falsch. "Die Aussicht auf einen Beitritt ist für viele Staaten ein stabilisierender Faktor", sagt er. "Würde man sie jetzt so vor den Kopf stoßen, wäre es eventuell schädlich für den Reformprozess in ihrem Land." Er glaubt deshalb nicht, dass es tatsächlich langfristig zu einem Beitrittstopp kommen wird.

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