Serie Teil 3: Von 1918 bis 1963 Ein Staat vom Reißbrett

Die Araber sehen sich um ihren Kriegslohn betrogen: Der Irak wird nicht unabhängig, sondern britisches Mandatsgebiet. Auch mit Hitlers Hilfe gelingt es nicht, die Engländer zu vertreiben. Ein Putsch fegt 1958 den König weg. Das Volk jubelt.

Man schreibt das Jahr 1921, und London sucht angestrengt einen König. Nicht für Großbritannien, sondern für den Irak, dieses künstliche Gebilde aus den ehemaligen drei osmanischen Provinzen Basra, Bagdad und Mosul. Der Völkerbund in Genf hat das Land den Briten ein Jahr zuvor als Mandatsgebiet zugesprochen. Doch die Araber im Zweistromland wollen diesen Status einfach nicht anerkennen und zetteln im Sommer 1920 einen Aufstand gegen die britische Krone an.

Die Empörung der Araber ist verständlich.

Sie fühlen sich verraten. Die Engländer haben ihnen während des Ersten Weltkriegs ein souveränes Groß-Arabien versprochen, falls sie sich gegen das Osmanische Reich erheben würden. Tatsächlich erobern 1917 englische Truppen und arabische Aufständische gemeinsam Bagdad, 1918 ziehen sie triumphal in Damaskus ein. Der Haschemitenprinz Sharif Faisal aus Mekka lässt sich 1920 in Damaskus zum König krönen und ruft das arabische Königreich Syrien aus. Das Osmanische Imperium zerbricht. Dem Traum vom arabischen Staat scheint nichts mehr im Weg zu stehen.

Doch die koloniale Gier von England und Frankreich ist zu stark. Die beiden europäischen Großmächte haben sich noch während des Kriegs insgeheim geeinigt, die arabische Konkursmasse des Osmanischen Reichs unter sich aufzuteilen. Irak, Jordanien und Palästina für London, Syrien und Libanon für Paris. Der Völkerbund segnet diesen imperialistischen Masterplan ab, mit der vagen Auflage, die Mandatsgebiete - irgendwann, irgendwie - in die Unabhängigkeit zu führen.

Ein französisches Expeditionskorps landet im Sommer 1920 in Syrien und marschiert auf Damaskus. Die Truppen Faisals leisten nur geringen Widerstand. Der erste - und einzige - König von Großsyrien wird unter demütigenden Umständen abgesetzt und des Landes verwiesen. Er sucht Zuflucht bei den Briten.

Die führen als Kolonialmacht das Zepter im Irak.

In der Stadt am Tigris residiert ein britischer Generalgouverneur. Britische Gesetzgebung wird eingeführt, von allen gehobenen Verwaltungsposten sind nur vier Prozent in arabischer Hand. T. E. Lawrence, der britische Held des arabischen Kampfes gegen die Osmanen, ist bestürzt: "Vom Anfang an waren unsere Versprechungen nichts als leeres Papier."

Im Juni 1920 werfen die Besatzer einen populären Scheich ins Gefängnis, weil er sich weigert, angebliche Schulden gegenüber der Mandatsregierung anzuerkennen. Das löst eine Revolte aus. Drei Monate haben die Engländer alle Hände voll zu tun, sie niederzuschlagen. 6000 Iraker und mehr als 400 britische Soldaten sterben in den Kämpfen.

Der Blutzoll erschrEckt die Regierung in London. Noch mehr aber ist sie entsetzt über das viele Geld, das die Niederwerfung des Aufstands kostet. Diese Ausgaben lassen sich im finanziell ausgezehrten Großbritannien kurz nach dem Weltkrieg nur schwer dem Wähler erklären. Was also tun, um die Kosten für die britische Präsenz im Irak niedrig zu halten und gleichzeitig die rebellischen Araber von neuem Aufruhr abzubringen? Der aufstrebende Kriegsminister Winston Churchill findet den Ausweg: Ein Monarch muss her!

König Faisal kommt da wie gerufen. Er ist zwar kein Iraker, sondern stammt aus Mekka in Saudi-Arabien. Dafür leitet seine Familie ihre Herkunft direkt vom Propheten Mohammed ab. "Das ist unser Mann", sagt Churchill. Populärer Freiheitskämpfer, aufgewachsen unter Beduinen und dabei kein England-Hasser - das ideale Aushängeschild für einen Staat mit nomineller Autonomie unter britischer Oberherrschaft. 1921 wird der Ex-König von Großsyrien als Herrscher recycelt und zum König des Irak bestimmt.

Gestützt auf ein reich verziertes Krummschwert, gleicht der 38-jährige Faisal mit seinem scharfen Profil auf Fotos einem Wüstenkrieger aus der Operette. Doch erweist er sich bald als Realpolitiker. Ihm ist klar, dass er nicht gegen die Engländer regieren kann. Denn die behalten sich vertraglich vor, jedem höheren irakischen Beamten einen britischen "Berater" beizugeben, der im Zweifel das letzte Wort hat. Außerdem verpflichtet sich der Irak, keine Politik zu machen, die gegen britische Interessen verstößt.

Noch spielt Erdöl keine Rolle.

Erst 1927 werden die Petroleumfelder von Kirkuk erschlossen, die Pipeline nach Haifa und Tripolis wird erst 1934 fertig gestellt, und bis in die fünfziger Jahre sind die Einkünfte des Irak aus der Ölförderung bescheiden. Doch die Engländer sichern sich vorsichtshalber die Kontrolle über die Quellen und gestehen der irakischen Regierung nur einen geringen Teil der Einkünfte zu.

Was Faisal am meisten Sorge bereitet: Er hat zwar einen Staat, aber kein Staatsvolk. Drei große Gruppen leben in seinem Reich von Englands Gnaden. Die schiitischen Araber im Süden stellen die Bevölkerungsmehrheit. Politisch aber sind sie unterrepräsentiert. Dem neuen König des Irak, der aus Mekka stammt, der sunnitischen Richtung des Islams anhängt und seine Getreuen aus der Zeit in Damaskus in wichtige Positionen hievt, stehen sie ablehnend gegenüber. Am einflussreichsten sind traditionell die arabischen Sunniten, die jedoch nur knapp 20 Prozent der Einwohner ausmachen. Schon unter den Türken - ebenfalls Sunniten - hatten sie sich Schlüsselpositionen in Politik und Wirtschaft gesichert. Sie erhoffen sich am meisten von einem Glaubensbruder auf dem Thron.

Die Kurden schließlich sind nicht nur geografisch

ganz am Rande von Faisals Königreich angesiedelt. Die zweitstärkste ethnische Gruppe im Irak ist kein semitisches, sondern ein indoeuropäisches Volk mit einer Sprache, die dem Persischen ähnelt. Die Kurden sind strikt gegen einen Zentralstaat. Denn kurz nach dem Ersten Weltkrieg haben ihnen die siegreichen Großmächte im Abkommen von S?vres ein unabhängiges Kurdistan zugestanden, dieses Versprechen aber in den folgenden Jahren stillschweigend ignoriert. Das Bergvolk im Norden ist von Anfang an ein Störfaktor und Unruheherd. In jedem Jahrzehnt irakischer Geschichte gibt es zumindest eine kurdische Revolte, ganz gleich, wer gerade in Bagdad regiert.

Der Gegensatz zwischen Schiiten, Sunniten und Kurden wird das prägende Moment der irakischen Nationalgeschichte bleiben und unter Saddam Husseins Diktatur seine brutalste Form erreichen. König Faisal erkennt das Problem. Er bemüht sich um einen Ausgleich zwischen den verfeindeten Gruppen. Doch seine Position ist zu schwach. Nur außenpolitisch gelingt dem König ein Erfolg.

Irak trotzt den Engländern die Selbstständigkeit ab, 1932 wird der Vertrag unterzeichnet, der das Land zum souveränen Mitglied des Völkerbunds macht. Die Briten erhalten Flottenstützpunkte, trainieren das irakische Militär, lassen sich "enge Konsultationen" bei allen außenpolitischen Fragen garantieren und etablieren in Bagdad einen Botschafter, der "bevorzugten Status" hat. Arabische Nationalisten argwöhnen fortan bei jeder politischen Entscheidung, dass London insgeheim die Hand im Spiel hat. "Nur aus der fortgesetzten Opposition zum Abkommen mit England sind die Revolution 1958 und in der Folge die anti-westliche Haltung im Irak zu verstehen", urteilt die amerikanische Historikerin Phebe Marr.

1933 stirbt König Faisal in einem Schweizer Krankenhaus

nach einer Herzattacke. Zwar ist er zur Behandlung seines Herzleidens, das ihn schon länger plagt, nach Europa gekommen. Doch nationalistische Kreise im Irak glauben, der Secret Service habe den König umgebracht, weil er zu aufsässig geworden sei. Sein 21-jähriger Sohn Ghazi wird Faisals Nachfolger.

Der junge König ist unter Soldaten groß geworden und unterhält engste Beziehungen zum Offizierskorps, das sich immer nationalistischer gebärdet. Er richtet im Palast einen Radiosender ein, von dem aus er die Konzessionen der Briten an die zionistische Bewegung in Palästina geißelt und den Anschluss Kuwaits an den Irak fordert: "Der Scheich von Kuwait ist nichts weiter als eine britische Marionette und ein Feudalherr, der sich selbst überlebt hat."

Ghazi hält still, als seine Generäle 1936 putschen und de facto die Macht übernehmen. Drei Jahre später rast der junge König heftig alkoholisiert mit seinem Sportwagen gegen einen Strommast - Cousin Abdallah übernimmt für Ghazis unmündigen Sohn die Regentschaft.

Als der Zweite Weltkrieg ausbricht

, sind die Offiziere im Irak fasziniert von den Siegen der Nazis. Sie fühlen in Berlin vor, ob das großdeutsche Reich sie im Fall eines Konflikts mit den Briten unterstützen würde. Die Antwort ist enttäuschend: Das Auswärtige Amt warnt sie ausdrücklich, überstürzt gegen die britische "Schutzmacht" loszuschlagen.

Trotzdem putschen 1941 vier Generäle. Ihre Truppen umzingeln den Königspalast. Abdallah kann entkommen. Der Pfarrer der amerikanischen Kolonie in Bagdad schmuggelt ihn, verborgen unter einer Decke, auf der Rückbank seines Autos aus der Stadt. Unter Berufung auf den englisch-irakischen Beistandspakt landen starke britische Truppenverbände in Basra. Die irakischen Generäle fordern deren unverzüglichen Abzug und erklären jede neue Truppenbewegung zum feindlichen Akt.

Ausgerechnet als die Briten mit einer Transportmaschine Frauen und Kinder evakuieren wollen, machen die Iraker Ernst: Sollte dieses Flugzeug zu starten versuchen, würden sie es unter Feuer nehmen. Daraufhin beschließt der britische Standortkommandant einen Überraschungsangriff. Den Briten gelingt es, den Belagerungsring der Iraker um den Flugplatz zu sprengen. Die irakischen Truppen ziehen sich bis fast nach Bagdad zurück. Die britische Luftwaffe zerstört binnen weniger Tage 25 der 40 Kampfflugzeuge des Irak. Die Aufständischen senden einen dringenden Hilferuf nach Berlin. Nazi-Deutschland reagiert, aber halbherzig und zu spät. Einen Monat nach Beginn der Kämpfe stehen im Mai 1941 britische Truppen vor Bagdad. Die Putschisten fliehen. Die Engländer nehmen die Zügel im Land wieder fest in der Hand.

Alle Anführer des Staatsstreichs werden zum Tode verurteilt und im Lauf der nächsten Jahre hingerichtet, soweit man ihrer habhaft wird. Den letzten Verschwörer lässt der Englandfreundliche Premier Nuri al-Said noch im Oktober 1945, ein halbes Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs, am Tor des Verteidigungsministeriums aufhängen. Doch ein Großteil der Iraker betrachtet die Toten als Märtyrer, das Königshaus samt seinem ergebenen Diener Nuri hingegen als willfährige Werkzeuge des britischen Imperialismus.

1958 baumelt ein anderer Toter am Tor des Verteidigungsministeriums - Regent Abdallah. Der Ort für das makabre Zur-Schau-Stellen der Leiche ist mit Bedacht gewählt. Denn die Militärs, die jetzt die Revolution ausrufen, nehmen für sich in Anspruch zu vollenden, was die "Märtyrer" von 1941 begonnen hatten. Das Königreich Irak geht blutig zu Ende. Als Truppen der Aufständischen den Palast umstellen, versucht Abdallah zusammen mit dem inzwischen 23-jährigen König Faisal II., dem Sohn von König Ghazi, durch die Küchentür des Palastes zu verschwinden.

Ein junger Offizier erkennt die beiden und eröffnet das Feuer. Faisal II. und Abdallah werden getötet. Die Dynastie ist ausgelöscht. Eine aufgeputschte Menge holt später die Leiche Abdallahs aus dem Palast, verstümmelt sie, schleift sie durch die Straßen Bagdads und hängt sie schließlich vor dem Verteidigungsministerium auf.

Die beiden Führer des Putsches,

General Karim Kassem und Oberst Salam Arif, verkünden dem Volk, die Armee habe "das Vaterland von der korrupten Clique befreit, die der Imperialismus einsetzte". Sie nehmen diplomatische Beziehungen zur Sowjet-union wie zu China auf und beenden die britische Militärpräsenz im Lande. 1959 räumen die Engländer ihren letzten Stützpunkt. Ihr Kolonialreich zerfällt, und London ist zu schwach, noch einmal energisch im Irak zu intervenieren. Eine Epoche ist zu Ende gegangen.

Die Hoffnungen der Bevölkerung auf soziale Reformen durch die neuen Machthaber sind riesengroß - und grotesk naiv. In der Hauptstadt nehmen die Leute aus den Geschäften einfach Waren mit, ohne zu bezahlen. Sie glauben allen Ernstes, durch die Revolution sei Geld überflüssig geworden. Die revolutionäre Hochstimmung hält nicht lange vor. An der Spitze entbrennt der Machtkampf. Anlass ist die Frage, ob sich der Irak der erst kürzlich gegründeten "Vereinigten Arabischen Republik", dem Zusammenschluss von Ägypten und Syrien unter der Führung von Gamal Abd el-Nasser, anschließen soll. Arif ist dafür, Kassem dagegen.

Zwischen beiden kommt es zum Showdown

im wahrsten Sinn des Wortes: Bei einem "Versöhnungstreffen" in einer Kaserne zückt Arif seinen Revolver. Kassem glaubt, Arif wolle ihn erschießen. Arif wird später aussagen, er habe Selbstmord begehen wollen. Denn er drückt in jenem Moment nicht ab. So bleibt Kassem am Leben. Arif wird degradiert, wegen Hochverrat angeklagt, zum Tode verurteilt, dann zu lebenslänglich begnadigt. Kassem steht allein an der Spitze des Staates.

Im Oktober 1959 versucht die 1943 gegründete Baath-Partei, die den Zusammenschluss mit Ägypten favorisiert, Kassem zu ermorden. Ein Trupp junger Baath-Aktivisten beschießt mitten in Bagdad die Limousine des Staatschefs. Dessen Fahrer stirbt. Der General selbst kann sich, aus vielen Wunden heftig blutend, aber nicht lebensgefährlich getroffen, in Sicherheit bringen. Die Attentäter entkommen im Gassengewirr der Altstadt.

Einer von ihnen heißt Saddam Hussein. Mit seinen 22 Jahren hat er sich bereits einen zweifelhaften Namen als Mann fürs Grobe gemacht: Ein Jahr vor dem Attentat auf Kassem tötete er in seiner Heimatstadt Tikrit einen Kommunisten nachts auf der Straße mit einem Schuss in den Hinterkopf. Der junge Saddam wird bei dem Schusswechsel mit Kassems Leibwächtern ins Bein getroffen.

Seine Hofbiografen haben heute

um diese eher harmlose Wunde eine Heldenlegende gestrickt: "Da es völlig unmöglich war, eine Klinik aufzusuchen, bat er seine Kameraden, die Kugel mit einer Rasierklinge, einer Schere und etwas Jod herauszuschneiden."

In Wahrheit behandelt ein Arzt den Angeschossenen. Saddam trägt eine Mitschuld am Scheitern des Anschlags. Zu früh hat er mit seiner Maschinenpistole losgeballert, sodass Kassems Leibwächter Zeit finden, das Feuer zu erwidern. Dem humpelnden Helden bleibt nur die Flucht nach Ägypten.

Dem Tod knapp entronnen und angesichts massenhafter Demonstrationen zu seinen Gunsten, sieht sich Kassem endgültig als Werkzeug der Vorsehung. Formal lässt er die demokratischen Einrichtungen zwar bestehen. Tatsächlich aber konzentriert er, gestützt auf Polizei und Armee, mehr und mehr Macht in seinen Händen. Die Massen lieben ihn. Denn anders als seine Vorgänger, die sich mit der herrschenden Kaste der Großgrundbesitzer nie anlegten, tut dieser Präsident etwas für die einfachen Leute. Er leitet eine Landreform ein, baut Schulen, Krankenhäuser und Wohnviertel für die Armen aus den Slums.

Schließlich nimmt er sich auch noch die großen Ölfirmen vor und wird dafür im Westen - es ist die Zeit des Kalten Kriegs - sofort als Kommunist gebrandmarkt. Kassem zwingt die Ölmultis, ihre Konzessionen für neu zu erschließende Ölfelder an den Staat zurückzugeben. Doch bereits erschlossene Lagerstätten und bestehende Förderrechte tastet er nicht an. Seine Politik findet begeisterte Unterstützung im Lande, das sich bisher vom Kartell der Ölmultis ausgebeutet fühlte. Getragen von seiner Popularität und überzeugt von seiner Unfehlbarkeit, macht Kassem politisch bald schwere Fehler. Die starke Kommunistische Partei wird sein Gegner. Er bricht mit den Kurden und ihren Autonomiewünschen und löst damit einen erbitterten Aufstand aus, der schließlich zwei Drittel der Armee im Norden bindet.

1961 geben die Engländer ihre "Schutzherrschaft"

über das Scheichtum Kuwait auf, die seit 1899 bestanden hat. Nominell ist das Land bis 1918 als Unterbezirk der Provinz Basra ein Teil des Osmanischen Reichs gewesen. Die Provinz Basra gehört schon zum Irak. Nun fordert Kassem, der sich als Rechtsnachfolger der osmanischen Sultane sieht, in einem Brief an den Scheich von Kuwait auch die freiwillige Rückeingliederung des ölreichen Wüstenlands. Der Scheich lehnt ab. Britische Truppen kehren nach Kuwait zurück. Sie werden später von Verbänden der Arabischen Liga abgelöst, denn die Nachbarstaaten wollen ihrem Bruder Kassem keine Gebiets- und Machtvergrößerung zugestehen.

Kassems Entfremdung vom Rest der arabischen Staaten bestärkt die Baath-Partei, ihre Putschpläne wieder aufzugreifen. Das Parteiprogramm der Verschwörer ist diffus. Es schwankt zwischen Sozialismus und einem mit panarabischen Phrasen garnierten Nationalismus. Trotzdem ist klar, was die Baath-Aktivisten und ihnen nahe stehende Teile der Armee wollen: die Macht. Einer der Drahtzieher des Staatsstreichs ist Oberst Salam Arif, Kassems ehemaliger Mitverschwörer und späterer Widersacher. Der Präsident hat erst kürzlich seine lebenslängliche Haftstrafe aufgehoben.

Im Februar 1963, als Kassems Truppen im Norden gegen die Kurden kämpfen, besetzen die Putschisten die Militärlager rund um die Hauptstadt und marschieren auf das Verteidigungsministerium, Kassems Amtssitz. Vier Kampfjets der Aufständischen beschießen das Gebäude. Über Radio verkünden die Putschisten ihre "siegreiche Revolution im Namen Allahs". Doch Tausende von Menschen strömen zu Kassems Amtssitz, noch bevor die Panzer dort eintreffen. Sie bitten den Präsidenten um Waffen, um ihn zu verteidigen. Kassem lehnt ab. In seiner Verblendung will der ehemalige General keine Zivilisten bewaffnen. Lieber vertraut er auf sein Charisma.

Während in den Armenvierteln von Bagdad die Menschen

mit Pistolen und Stöcken gegen die aufständischen Soldaten kämpfen, mäht die paramilitärische "Nationale Garde" der Baath-Partei, unterstützt von Armeepanzern, die Menschen vor dem Ministerium nieder. Es dauert 24 Stunden, bis die Putschisten in das Gebäude eindringen können. Kassem kapituliert. Er wird in die Fernsehstation von Bagdad gebracht und dort sofort vor einem Sondergericht wegen Hochverrats angeklagt.

Bereits eine Stunde nach seiner Festnahme ergeht das Urteil: Tod durch Erschießen. Kassem bittet darum, Salam Arif treffen zu dürfen. Denn er hofft, der werde ihm das Leben schenken, so wie er es mit Arif nach dessen Hochverratsprozess getan hat. Arif lässt dem Präsidenten ausrichten, die Entscheidung liege nicht mehr in seinen Händen. Im schallgedämmten Musikstudio der TV-Station erschießt ein Hinrichtungskommando den ersten Präsidenten der Republik Irak.

Um dem Gerücht zu begegnen, der populäre Kassem sei noch am Leben, inszenieren die Sieger ein makabres Schauspiel. Mehrere Abende hintereinander zeigen sie im Fernsehen den von Kugeln durchlöcherten Körper. "Jeden Abend wurde die Leiche im Studio auf einen Stuhl gesetzt, und ein Soldat deutete auf die Einschüsse. Am Ende dieser makabren Bildsequenz kam eine Szene, die jeder, der sie gesehen hat, nie vergessen wird: Der Soldat packte den herabhängenden Kopf an den Haaren, ging dicht an ihn heran und spuckte dem Leichnam kräftig ins Gesicht", so der Exil-Iraker Samir al-Khalil 1989 in seinem Buch "Republik der Furcht".

Die Bösartigkeit und Rachsucht derer,

die nach ihm kamen, fehlte Kassem. Er zeigte bemerkenswerte Großmut gegenüber vielen von denen, die immer wieder versucht hatten, ihn zu stürzen", urteilt das Historikerpaar Marion und Peter Sluglett über die populärste Figur der irakische Geschichte. Sein Ex-Freund Salam Arif zeigt diese menschliche Schwäche nicht. Er lässt Kassems sterbliche Überreste in den Tigris werfen und wird neuer Präsident des Irak.

In Bagdad beginnt das große Morden. "Angesichts der ver- zweifelten Versuche kommunistischer Agenten, der Partner des Gottesfeindes Kassem, Verwirrung unter dem Volk zu säen, sind Militär, Polizei und Nationale Garden autorisiert, alle Friedensstörer zu vernichten", lautet der Befehl. Todeslisten kursieren, Verdächtige werden gefoltert, nach fragwürdigen Prozessen hingerichtet oder auf der Straße erschossen, wenn sie nur den geringsten Widerstand leisten. Mehrere tausend Menschen sterben.

Als das neue Regime fest im Sattel sitzt, kehrt ein Mann aus dem Exil nach Bagdad zurück, der sich schon früh - wenn auch erfolglos - an der Liquidierung Kassems versucht hat. Der inzwischen 26-jährige Saddam Hussein trifft mit dem Flugzeug aus Kairo in der Hauptstadt ein. Er hofft auf eine große Karriere in der Baath-Partei. Doch der unaufhaltsame Aufstieg des Saddam Hussein beginnt glanzlos. Zu seiner herben Enttäuschung bedenkt man ihn nur mit einem Referat in der Zentralen Bauernbehörde. Dabei hat der ehrgeizige Jungpolitiker Höheres im Sinn als die Verbesserung des Ackerbaus im Irak.

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Teja Fiedler