Es ist eine schlichte, aber ungeheuer wichtige Tatsache: Nordrhein-Westfalen ist das bevölkerungsreichste Land der Bundesrepublik. Dort leben knapp 18 Millionen Menschen, deutlich mehr als in den Niederlanden, Belgien oder der Schweiz, von Dänemark ganz zu schweigen. Von diesen 18 Millionen Menschen sind 13,5 Millionen wahlberechtigt. Allein deswegen werden die Landtagswahlen in NRW völlig zu Recht als "kleine Bundestagswahl" bezeichnet. Darüber hinaus ist NRW eine Art politischer Seismograph: Die Ergebnisse spiegeln auch die (Un-)Zufriedenheit mit der Bundesregierung. Ministerpräsident Jürgen Rüttgers, CDU, ist 2005 vor allem deswegen an die Macht gekommen, weil die Bürger die Nase von Kanzler Gerhard "Hartz IV" Schröder, SPD, voll hatten. Schröder suchte sein Heil in Neuwahlen - und verlor.
Auch bei dieser Landtagswahl steht politisch sehr, sehr viel auf dem Spiel. Hier die acht wichtigsten Gründe, warum so viele Menschen um 17.59 Uhr Schweißperlen auf der Stirn haben werden.
Stimmungstest für Merkel und Westerwelle
In jüngster Zeit haben es Berliner Regierungspolitiker immer häufiger offen ausgesprochen: Es gab nach den Koalitionsverhandlungen ein "Stillhalteabkommen". Heißt: Bis zur NRW-Wahl wird keine wichtige Entscheidung getroffen. Diese Strategie war eine Fortsetzung von Angela Merkels Wahlkampfstrategie der "asymetrischen Demobilisierung" - dem Gegner sollte keine Möglichkeit gegeben werden, seine eigenen Anhänger heiß zu machen. Ein Beispiel: Hätte die Koalition schon im ersten Halbjahr beschlossen, die Laufzeiten von Atomkraftwerken zu verlängern, wären die Proteste noch viel heftiger ausgefallen als sie das ohnehin schon sind.
Das "Stillhalteabkommen" ist der Kanzlerin und ihrem Vize Guido Westerwelle allerdings um die Ohren geflogen. Denn so konzentrierte sich die Berichterstattung auf das endlose Gezerre der Koalitionäre um die offenen, noch nicht entschiedenen Punkte - vom Umgang mit der Atomenergie über die Gesundheitsreform bis hin zu den geplanten Steuersenkungen. Die schwarz-gelbe Koalition in Berlin sah aus wie ein Verein hasenfüßiger Streithanseln. Die Popularität von Merkel und Westerwelle hat darunter deutlich gelitten: Die Kanzlerin verlor, auch wegen der Griechenlandkrise, im jüngsten Ranking sechs Prozentpunkte, der Außenminister ist mittlerweile der unbeliebteste Spitzenpolitiker Deutschlands.
Diese Befunde belasteten den Wahlkampf ihrer Parteien in NRW - und das Ergebnis könnte die Befunde nochmals bestätigen oder sogar verschlechtern. Verliert Schwarz-Gelb die Macht in Düsseldorf, wird dies auch als "Denkzettel" für Merkel und Westerwelle verstanden werden. Zumal auf der politischen Landkarte dann wieder mehr Rot zu sehen sein würde.
Schicksalswahl für Jürgen Rüttgers
Jürgen Rüttgers, CDU, inszeniert sich als Erbe von Johannes Rau, SPD; selbst seinen Wahlkampfslogan "Wir in NRW" hat er übernommen. Das ist nicht nur ein taktischer Zug, um die in NRW stark vertretene Arbeiterschaft an die CDU zu binden. Das ist offenbar auch Ausdruck einer ganz persönlichen Hoffnung - nämlich, eine ähnlich beutende politische Karriere wie das Vorbild absolvieren zu können. Rau war 20 Jahre lang Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen, er war Kanzlerkandidat und schließlich Bundespräsident. Dem 58-jährigen Rüttgers werden ebenfalls Ambitionen nachgesagt, in Schloss Bellevue einzuziehen.
Um karrieremäßig weiter im Spiel zu bleiben, muss Rüttgers jedoch, koste es, was es wolle, nochmals Ministerpräsident werden - ansonsten gilt er als gescheitert. Da Schwarz-Gelb in den Umfragen so weit hinten liegt, dass eine Fortsetzung der bisherigen Koalition in NRW als sehr unwahrscheinlich gilt, bleiben ihm nur zwei Optionen: Große Koalition oder Schwarz-Grün. Der Haken an der Sache: Die Personalie Rüttgers könnte Gegenstand der jeweiligen Koalitionsverhandlungen sein. Die SPD beispielsweise könnte darauf beharren, dass Rüttgers ausgewechselt wird, damit sie einer Großen Koalition zustimmt.
So düster die Zeichen für Rüttgers stehen: Es könnte auch ganz anders kommen. Nämlich dann, wenn er Chef eines schwarz-grünen Kabinetts wird. Er würde als großer Modernisierer gelten, als Mann des Aufbruchs, NRW könnte das Modell für die Bundestagswahlen 2013 werden. Rüttgers wäre in diesem Fall so stark, dass sich Merkel, mit der er schon manchen Streit ausgefochten hat, zum Beispiel um die Verlängerung des Arbeitslosengelds II, warm anziehen müsste.
Renaissance der SPD?
Diese Frage haben die Strategen im Berliner Willy-Brandt-Haus schon längst beantwortet: Na klar! Schließlich wird die SPD in NRW den Umfragen zufolge mit 30 Prozent plus X abschneiden. Das ist im Vergleich zum desaströsen Ergebnis der Bundestagswahl schon viel. Und es würde suggerieren: Die Sozialdemokraten sind wieder da, sie holen auf, sie sind doch eine Volkspartei. Diese Botschaften, darauf kann man jetzt schon einen beliebigen Betrag setzen, wird Parteichef Sigmar Gabriel am Sonntagabend verkünden.
Allein: Die Rechnung, auf der die angebliche "Renaissance" beruht, ist natürlich zum eigenen Vorteil geschummelt. 2005 holte die SPD bei der Landtagswahl 37,1 Prozent, es war das schlechteste Ergebnis seit den 50er Jahren. Gut möglich, dass Spitzenkandidatin Hannelore Kraft dieses Ergebnis nochmals unterbietet. An diesem Maßstab gemessen - Johannes Rau holte 1985 noch die absolute Mehrheit (!) - müsste Kraft eigentlich als Verliererin bezeichnet werden. Nur auf der Folie der sozialdemokratischen Gesamtsituation lässt sich ihr Abschneiden anders deuten.
Steigt die SPD in die Regierung ein, gelingt ihr gar ein rot-grünes Regierungsbündnis in NRW, hätte sie allerdings zwei Trümpfe in der Hand: Erstens könnte sie über den Bundesrat der schwarz-gelben Koalition mächtig in den politische Suppe spucken, zweitens würde dies auch als Signal für die Bundestagswahlen 2013 aufgefasst werden.
Schlammcatchen von Grünen und FDP
Grüne und FDP sind nicht nur in einen politischen Wettstreit verwickelt - die persönlichen Abneigungen haben sich gerade in NRW bis zum Hass gesteigert. Wer einen Eindruck davon bekommen will, sollte sich das Protokoll der Landtagssitzung vom 11. März zu Gemüte führen - es ging damals darum, welche Parteien als extremistisch anzusehen sind. Für den Grünen Horst Becker war die Antwort klar: die FDP. "Sie sind bei den Parteien der radikale Rand, der marktradikale Rand, der extreme marktradikale Rand." Umgekehrt drosch FDP-Landeschef Andreas Pinkwart auf dem Parteitag in Siegen auf die Grünen ein: "Sie ruinieren unser Land, wenn man ihnen dazu Gelegenheit gibt."
Politischer Hintergrund ist, dass FDP und Grüne mittlerweile um eine dieselbe, bürgerliche Wählerschicht konkurrieren: die Besserverdienenden. Bei der Bundestagswahl 2009 hängten die Liberalen die Grünen noch deutlich ab, in NRW sieht es nach den Umfragen anders herum aus: Die Grünen werden auf 10 bis 12 Prozent geschätzt, die FDP auf 6 bis 8 Prozent. Daraus ergeben sich für die Parteien sehr unterschiedliche Konsequenzen.
Pinkwarts FDP muss ihr Landtagswahlergebnis von 2005, damals waren es 6,2 Prozent, unbedingt toppen. Nur dann könnte sie, da es für die Fortsetzung der schwarz-gelben Koalition vermutlich nicht reichen wird, mit dem Finger auf die CDU zeigen und sagen: An uns lag es nicht. Bleibt die FDP unterhalb dieser Marke, wird sich Landeschef Pinkwart kaum halten können, es würde auch eine kritische Debatte um Guido Westerwelle entbrennen. So oder so sind die Liberalen in einer unbequemen Lage: Verlieren sie die Macht, wird von den liberalen Großprojekten - Steuersenkungen, Kopfpauschale etc. - nicht mehr viel übrig bleiben.
Die Grünen hingegen sind schon jetzt in Feierlaune. Sie könnten, wenn SPD und CDU etwa gleichauf liegen und die Linken scheitern, in die Rolle der Königsmacher schlüpfen und die politischen Preise für eine Koalition extrem hoch treiben. Wie das funktioniert, hat der Grüne Hubert Ulrich im Saarland vorgemacht: Seine Partei stellt dort drei Abgeordnete - und zwei Minister.
Das Vermächtnis des Oskar Lafontaine
Die Linken hatten im Saarland einen fulminanten Wahlerfolg: Bei der Landtagswahl im August 2009 holten sie 21,3 Prozent - damit schien das 5-Parteien-System zementiert. Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen könnte das wieder in Frage stellen. Die Meinungsforscher sehen die Linken bei fünf bis sechs Prozent, möglicherweise bleiben sie draußen. Tritt dies ein, wäre es ein herber Rückschlag für die Partei: Die Eroberung der westdeutschen Parlamente wäre vorerst gestoppt. Gregor Gysi und Oskar Lafontaine sind auch deshalb im NRW-Wahlkampf so präsent, weil sie genau diesen Eindruck verhindern wollen.
Kurioserweise haben sie einen heimlichen Verbündeten in der CDU: Jürgen Rüttgers. Er redet ununterbrochen von den "Kommunisten" der Linkspartei und macht damit kostenlos Promotion für sie. Der Grund: Nur wenn die Linken einziehen, ist für Rüttgers die Gefahr einer rot-grünen Mehrheit gebannt. Er weiß, dass Hannelore Kraft, SPD, keine Koalition mit den Linken eingehen kann, ohne in die Ypsilanti-Falle zu tappen.
Könnte die NRW-Linke überhaupt mitregieren? Der Landesverband ist über diese Frage zutiefst zerstritten, er ist ein Sammelsurium von Altkommunisten, Gewerkschaftern, Spinnern, Trittbrettfahrern. Prominentestes Mitglied ist Ost-Import Sahra Wagenknecht, die alles will, nur nicht regieren. Das ist ganz im Sinne Oskar Lafontaines, der den Linken einen Programmentwurf verordnet hat, der sie scharf von der SPD abgrenzt. Lafontaine setzt im Westen weiter auf Protest und Opposition, um die Linke so stark zu machen, dass eines Tages niemand mehr an ihr vorbei kommt.
Ein Linksbündnis mit den Grünen liegt faktisch weder im Interesse der SPD noch der Linkspartei. Die SPD fürchtet die Ypsilanti-Falle und den frühen Burn-Out der rot-rot-grünen Option, die Berliner Parteizentrale der Linkspartei hat Sorge, dass sie sich die unerfahrenen NRW-Kader in einer Landesregierung bis auf die Knochen blamieren würde. Sie setzt vielmehr auf ein "training on the job" - die NRW-Linken sollen erstmal eine Phase der Professionalisierung durchlaufen. Dafür brauchen sie Jahre. In der Opposition.
Die Handlungsfähigkeit der Kanzlerin
Nordrhein-Westfalen hat, weil es ein so großes Land ist, sechs Stimmen in der Länderkammer, dem Bundesrat. Bislang gehören diese Stimmen dem schwarz-gelben Lager. Angela Merkel könnte also, wenn sie nur wollte, "durchregieren". Kommt es in NRW zu einer neuen Regierungskoalition, ist diese Option im Eimer. Heißt: Großvorhaben wie die Steuersenkungen, die Gesundheitsreform oder auch der Ausstieg aus dem Atomausstieg wären kaum durchsetzbar. Alle diese Projekte müssen auch im Bundesrat abgesegnet werden, eine Große Koalition oder auch ein schwarz-grünes Bündnis in NRW würde seine Zustimmung verweigern.
Das würde zu einem enormen Identitätsverlust der Bundesregierung führen. Es wäre noch viel weniger klar, wofür sie eigentlich steht. Andererseits: Merkel und Westerwelle hätten endlich einen Sündenbock, dem sie das Scheitern von Projekten zuschreiben könnte, die ohnehin kaum zu realisieren sind. Außerdem wäre die Kanzlerin nicht mehr so leicht von den CDU-Ministerpräsidenten unter Druck zu setzen. Sie könnte sich vielmehr wieder auf das konzentrieren, was sie am besten kann: zwischen unterschiedlichen Lagern und Interessen moderieren und sie gegeneinander ausspielen. Merkel wäre faktisch die Chefin einer ganz, ganz großen Koalition zwischen CDU, CSU, FDP und SPD, vielleicht auch den Grünen. Das würde ihrem Hang zum Präsidialen wieder realpolitisch fundieren - und ihren Popularitätswerten vielleicht sogar einen Kick geben. Für die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung wäre es indes eine Katastrophe.
Hat die Kohleförderung noch eine Zukunft?
"Ich bin die Kohletante." Mit diesen Worten marschierte Hannelore Kraft, Spitzenkandidatin der SPD, durch den Wahlkampf. Kraft will den hoch subventionierten Kohlebergbau in NRW erhalten. Erstens, um die Abhängigkeit von ausländischen Energielieferanten zu verringern. Zweitens, um die deutschen Exporteure von Bergbautechnologie zu stützen. Drittens, um die Kumpel für die SPD zu gewinnen. Die Grünen lehnen die Fortsetzung des Bergbaus ab, weil die Verstromung von Kohle den Klimakiller CO2 produziert. CDU und FDP sind dagegen, weil sie die Subventionen für Verschwendung halten - das Geld sollte lieber in zukunftsträchtigere Technologien und Bildung gesteckt werden.
Kohle ist indes nicht nur ein wirtschaftspolitisches Thema in NRW, sondern auch ein Stück Kultur. Die Zechen, die die die Landschaft prägen, die Familien, die seit Generationen unter Tage arbeiten, das Leben mit harter Arbeit, Fußball und Pommes-Schranke. Im Ruhrpott ist dieser Lebensstil noch erlebbar, Düsseldorf ist ein anderer Planet. Lohnt es sich, die Kohleförderung zu erhalten? Die Wahl wird darauf eine politische Antwort formulieren.
Dreigliedriges Schulsystem versus Einheitsschule
Die Bildungspolitik ist, auch weil der Bund die Zuständigkeit komplett auf die Länder verlagert hat, ein Zankapfel. In NRW hält Ministerpräsident Jürgen Rüttgers am dreigliedrigen Schulsystem - Hauptschule, Realschule, Gymnasien - fest. Die SPD will eine Art Gesamtschule, in der die Kinder sechs Jahre gemeinsam lernen und dann, je nach Leistungsniveau, Kurse belegen. Außerdem sollen die Schüler ein Mittagessen bekommen und am Nachmittag betreut werden. Wer das finanzieren soll - darüber schweigt sich Kraft bislang aus.
Gleichwohl: In der Bildungspolitik steht mit der Wahl eine scharfe Richtungsentscheidung an. Da in NRW mehr Kinder als in anderen Bundesländern beschult werden, hat die Entwicklung besonderes Gewicht. Die Effekte der Schulpolitik sind indes erst nach Jahren ablesbar - zum Beispiel in den Pisa-Studien.