Dieser Text erschien erstmals in stern 48/2014.
Einen derart monströsen Skandal hat die Republik noch nicht erlebt. Der Staat misstraut seinen eigenen Organen. Jenen, die für die Sicherheit ebendieses Staates verantwortlich sind: Verfassungsschutz, Bundeskriminalamt (BKA), Bundesanwaltschaft. Denn nach deren Theorie gehen die zehn Morde, zwei Bombenanschläge und 15 Raubüberfälle des 2011 aufgeflogenen Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) allesamt auf das Konto eines Trios: Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe. Die beiden Uwes sollen sich in Eisenach das Leben genommen haben, Zschäpe steht in München vor Gericht.
Staatsaffäre.
Selbst der Innenminister bezweifelt die These vom Trio. In einer Bundestagsdebatte zum dritten Jahrestag der Aufdeckung des NSU sprach Thomas de Maizière von "potenziellen weiteren Tätern". Das hieße: Die Mörder sind unter uns. Und die Anklage gegen Zschäpe gründet auf der falschen, aber bequemen Theorie vom Trio. Platzte der Prozess deswegen, müsste sie freigelassen werden. Der Schaden, auch außenpolitisch, wäre immens: Acht Opfer waren türkischer Herkunft.
Trio-These aus dem "Reich der Märchen"
Der Bundestag wurde zum Tribunal über die Sicherheitsorgane. Der Christdemokrat Clemens Binninger sieht "noch viele Fragen offen". Die Sozialdemokratin Eva Högl erkennt ein "breites Netzwerk rechtsextremer Strukturen, verteilt über ganz Deutschland". Der Grüne Cem Özdemir verweist die Trio-These "ins Reich der Märchen". Die Linke Petra Pau klagt: "Der Aufklärungswille der Behörden verharrt weiterhin nahe Null. … Das Staatsversagen geht weiter."
Staatsversagen.
Das ist die gnädige Lesart, die eine skandalöse Kette von Pannen und Fehlern der Ermittler, über 16 Jahre hinweg, annimmt. Staatsversagen erkennen alle, auch der Innenminister.
Der NSU-Untersuchungsausschuss des Thüringer Landtags ging weiter: "Die Häufung falscher oder nicht getroffener Entscheidungen und die Nichtbeachtung einfacher Standards lassen aber auch den Verdacht gezielter Sabotage und des bewussten Hintertreibens eines Auffindens der Flüchtigen zu." Die Terroristen wären von den Behörden gewarnt, ja geschützt worden.
Staatskumpanei.
Morde unter den Augen der Behörden?
Das ist hart am Rande der katastrophalsten Hypothese: Der NSU mordete unter den Augen der Behörden, umgeben von V-Leuten. Das Trio wurde vom Verfassungsschutz sogar in den Untergrund geschleust, wo es aus dem Ruder lief. Die Legende wurde 1998 inszeniert, als in Jena eine Bombenwerkstatt ausgehoben wurde und man Böhnhardt davonspazieren ließ.
Mehmet Daimagüler, Nebenklägervertreter im Zschäpe-Prozess, hält die Rekrutierung für denkbar. Uwe Mundlos hatte der Militärische Abschirmdienst (MAD) 1995 vergebens anzuwerben versucht, nachdem er bei der Bundeswehr rechtsextrem aufgefallen war – unter anderem durch Visitenkarten mit dem Bild Adolf Hitlers. Dennoch wurde der Soldat des Führers beim Panzergrenadierbataillon 381 an Waffen ausgebildet und befördert. Die Mundlos-Akte reichte der MAD an das Bundesamt und die Landesämter für Verfassungsschutz in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt weiter. Für eine Anwerbung, die später vertuscht wurde?
Wie dargestellt, kann es nicht gewesen sein
Staatsverschwörung.
Dafür spricht die systematische Vernichtung von Akten beim Verfassungsschutz. Mundlos und Böhnhardt sind vier Tage tot, da stellt sich am 8. November 2011 in Jena Beate Zschäpe der Polizei. Zwei Stunden später setzt sich im Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz der Referatsleiter Beschaffung Rechtsextremismus an den Computer und sucht Dokumente über V-Leute im Umfeld des NSU. Die ersten Akten werden am 11. November im Keller vernichtet – kurz zuvor hatte sie der Generalbundesanwalt angefordert. Der Referatsleiter datiert die Aktion später auf Jahresbeginn zurück. Bis zum 4. Juli 2012 werden in Köln 310 Akten geschreddert. Auch in Thüringen, Sachsen, Niedersachsen und Berlin werden Dokumente über V-Männer beseitigt.
Da mag an Pannen und Zufälle glauben, wer will. So, wie der NSU-Komplex dargestellt wird, kann es nicht gewesen sein. Der Fall strotzt vor Rätseln und Widersprüchen. Die Polizistin Michèle Kiesewetter wird 2007 in Heilbronn wohl nicht zufällig erschossen, aus Hass auf den Staat, wie die Bundesanwaltschaft behauptet, sondern weil sie etwas weiß. Zeugen drängen den Schluss auf, dass nicht zwei, sondern fünf oder sechs Täter beteiligt waren.
An keinem der 26 Tatorte wird DNA von Mundlos oder Böhnhardt gefunden. Auch nicht an den vier Mordwaffen. Dafür aber klebt an einer Waffe fremdes Erbmaterial.
Aller Verdacht auf das Trio - wie arrangiert
Der Bombenanschlag auf die Kölner Keupstraße 2004 hätte sofort geklärt werden können. Denn die beiden Täter waren auf einem Video festgehalten; eine Verfassungsschutzquelle hatte gewarnt, dass es in Köln knallen werde; vier Wochen zuvor war das Trio in einem Dossier genannt worden; und seine Sprengstoffdaten waren seit dem Jenaer Fund gespeichert. Dreieinhalb Stunden nach dem Anschlag suchte das Bundesamt dringend Kontakt zum Landesamt für Verfassungsschutz. Dennoch hat niemand im Bundesamt in das Video und die Sprengstoffdatei geschaut?
In Kassel wurde 2006 der türkischstämmige Besitzer eines Internetcafés erschossen. In dem Café saß ein Verfassungsschützer, angeblich zufällig. Die beiden Schüsse will er nicht gehört, die Leiche beim Hinausgehen nicht gesehen haben.
Beate Zschäpe sprengte ihre Zwickauer Wohnung. Im Brandschutt fanden sich später, wie arrangiert, die vier Tatwaffen des NSU, ein Handy mit dem Zettel "Aktion" und Bekenner-DVDs – als sollte aller Verdacht auf das Trio fokussiert werden.
Rätselhafter Blogger aus Phnom Penh
Die Untersuchungsausschüsse vibrieren vor Empörung über die Behörden. Sechs sind es inzwischen: Im Bundestag sowie in den Landtagen von Sachsen und Thüringen haben sie ihre Arbeit vorerst abgeschlossen, in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Hessen stehen sie am Anfang. Sie ermitteln anstelle der Ermittler. In Erfurt und in Berlin folgen womöglich bald Zweit-Ausschüsse.
Ein leuchtendes Beispiel für Aufklärungswillen ist Clemens Binninger, Obmann der Union im ersten Bundestagsausschuss und Chef des Parlamentarischen Kontrollgremiums für die Geheimdienste. Binninger, eigentlich ganz Mann des Staates, hat als Streifenpolizist begonnen, an der Polizei-Führungsakademie in Münster studiert und im Stuttgarter Innenministerium gearbeitet. Mitunter reist er zu NSU-Tatorten, um sich selbst ein Bild zu machen. Wenn es etwas Ermutigendes gibt in der Staatsaffäre, dann sind es aufrechte Parlamentarier wie Binninger.
Seinen Glauben an die Behörden hat er verloren. Zumal ein rätselhafter Blogger unter dem Pseudonym "Fatalist" aus dem fernen Phnom Penh neue Zweifel sät – im Internet unter "NSU Sach- und Lachgeschichten". Er hat, wie man in Berlin vermutet, alle Dokumente aus den 620 NSU-Leitz-Ordnern des BKA erhalten, von einem Whistleblower. Die im Netz zur Schau gestellten Dokumente waren den Parlamentariern zum Teil unbekannt.
Die Spitzen des Staates, Joachim Gauck und Angela Merkel, haben den Angehörigen der Opfer rückhaltlose Aufklärung versprochen. Die sind sie schuldig.